Auch wenn die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) grünes Licht gegeben hat für die Zulassung des "Biontech"-Impfstoffs für Kinder ab zwölf Jahren. Und Bund und Länder entschieden haben, dass sich Jungen und Mädchen bis 15 Jahren seit Montag, 7. Juni impfen lassen dürfen, hat die Ständige Impfkommission (Stiko) am heutigen Donnerstag, 10. Juni, keine generelle Empfehlung dafür ausgesprochen. Die Experten haben sie auf chronisch oder anderweitig schwer vorerkrankte Jugendliche beschränkt. Warum? Was spricht dafür, was dagegen? Ein Überblick.
Contra: Das könnte gegen eine Impfung sprechen
Zu wenig Daten und Studien
Die Experten der Stiko betonen die Wissenslücken und das Fehlen von Daten bezüglich der Sicherheit des Impfstoffs in der Altersgruppe der 12- bis 16-Jährigen und verweisen auf die geringe Zahl an geimpften Probanden und eine viel zu kurze Nachbeobachtungszeit. Zur objektiven Bewertung des Risikos des Impfstoffs, beziehungsweise seiner Nebenwirkungen gab es bislang für diese Altersgruppe nur eine Studie mit rund 2.000 Probanden. Würde die Impfung hypothetisch bei einem von 10.000 Geimpften eine schwere oder tödliche Nebenwirkung auslösen, würde sie bei der geringen Anzahl von 2.000 Geimpften nur zufällig entdeckt. Wenn aber Hunderttausende Kinder und Jugendliche geimpft werden, würde diese schwere Nebenwirkung bei einigen mehr auftreten.
Nicht ausschließen können die Experten, dass Kinder und Jugendliche wegen ihres sehr aktiven Immunsystems heftig und mit anderen Nebenwirkungen als Erwachsene auf eine Impfung reagieren. Insgesamt seien Reaktionen auf Corona-Impfstoffe bei jüngeren Menschen häufiger als bei älteren Menschen.
Geringes Risiko schwerer Verläufe
Außerdem hätten gesunde Kinder und Jugendliche, die sich mit Covis-19 infizieren, ein sehr geringes Risiko, schwer zu erkranken. Der Nutzen der Impfung wiege also möglicherweise ihr Risiko nicht auf. In der Meldestatistik sind bislang 188.000 infizierte Kinder und Jugendliche zwischen zwölf und 17 Jahren erfasst worden, etwa ein Prozent, also 1.800 wurden in eine Klinik eingewiesen, ein Prozent davon wiederum intensivmedizinisch behandelt. Es gab zwei Todesfälle von vorher schwersterkrankten Kindern. Der Nutzen der Impfung, schwere Erkrankungen und Todesfälle zu verhindern, sei in dieser Altersgruppe also nicht allgemein gegeben. Es müssten etwa 100.000 12- bis 17-Jährige geimpft werden, um einen Covd-19-bedingten Todesfall zu verhindern.
Nicht bedeutend für Herdenimmunität
Experten sind sich sicher, dass 80 Prozent aller Deutschen geimpft sein müssten, um die Pandemie in den Griff zu bekommen. Die Gruppe der 12- bis 16-Jährigen macht rund 16 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. So gesehen müssten diese Jugendlichen nicht geimpft werden, wenn sich alle Erwachsenen impfen lassen würden.
Zu wenig Impfstoffe
Die streng festgelegte Reihenfolge bei der Corona-Impfung ist seit diesem Montag bundesweit aufgehoben und damit haben alle ab zwölf Jahren zumindest theoretisch die Möglichkeit, einen Impftermin zu bekommen. Impfstoffe sind aber weiter rar, speziell für junge Menschen reservierte Dosen gibt es nicht. Das ist für einige Experten ein Grund, zunächst die noch immer vielen, gefährdeten Erwachsenen zu impfen.
Was bedeutet eine Stiko-Empfehlung?
Die Europäische Arzneimittelagentur (Ema) ist rein für die Zulassung von Impfstoffen auf dem europäischen Markt zuständig, nicht aber für die Einschätzung, ob und wie der Impfstoff zum besten Nutzen der Bevölkerung eingesetzt wird.
Das übernimmt in Deutschland die ständige Impfkommission (Stiko), ein unabhängiges, ehrenamtliches Gremium, das alle Fragen und Daten wissenschaftlich prüft und analysiert, die zur Sicherheit und Wirksamkeit des Impfstoffes vorliegen, sowie zur Verbreitung und zur Last der Krankheit, die damit verhindert werden soll. Es geht also um eine Risiko-Nutzen-Bewertung.
Normalerweise ist ihr Urteil wichtig für Fragen der Haftung und der Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen. Bei der Corona-Impfkampagne ist das aber über den Bund geregelt. Formal ist das Impfen also auch ohne Stiko-Empfehlung möglich, es widerspricht aber der etablierten Praxis. In bestimmten Fällen kann eine Impfung durchaus sinnvoll sein, was im ärztlichen Gespräch mit Eltern und Kind geklärt werden kann.
Pro: Das könnte für eine Impfung sprechen
Individualschutz
Zwar erleiden Kinder wesentlich seltener schwere Verläufe, dennoch sind auch sie durch Corona gefährdet. Eine Impfung würde sie vor schweren Verläufen schützen.
Jugendliche sind eher von Langzeitfolgen betroffen
Bei Kindern und Jugendlichen ist das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf zwar geringer, aber kein Nullrisiko. Einige Experten, wie der Virologe Christian Drosten, würden deshalb ihr Kind impfen lassen. Auch, um Langzeitfolgen und das Risiko des multisystemischen Entzündungssyndroms (Pims) zu verhindern. Diese schwere Erkrankung, die hierzulande bisher bei 232 Kindern und Jugendlichen gemeldet wurde, tritt mehrere Wochen nach der Infektion auf. Es gibt Schätzungen, dass das Risiko an Pims zu erkranken, bei eins zu 1.000 bis eins zu 5.000 liegt. Von Langzeitfolgen betroffen sind nach Schilderungen von Expertinnen und Experten eher Jugendliche als kleine Kinder.
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Psychosoziale Folgen verhindern
Vor allem Psychiater und Psychologen betonen die große Angst vieler Jugendlicher, unbemerkt mit Covid-19 infiziert zu sein, und damit andere Personen zu gefährden. Eine Langzeituntersuchung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zeigt diese und andere, teils dramatischen Auswirkungen von Lockdown, Fernunterricht und wenig sozialen Kontakten auf Kinder in Deutschland: 83 Prozent der sieben- bis 17-Jährigen gaben an, durch die Pandemie stark belastet zu sein, die meisten davon leiden unter Angststörungen. Eine Impfung könnte Kindern und Jugendlichen diese Ängste nehmen und sie aus der sozialen Isolation befreien.
Schutz für chronisch kranke Kinder
Die Stiko-Experten nennen rund ein Dutzend Krankheitsbilder, die mit einem wahrscheinlich erhöhtem Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf einhergehen – darunter Adipositas (Fettleibigkeit), chronische Lungenerkrankungen, chronische Nieren- und Herzinsuffizienz, Immunschwäche, maligne Tumorerkrankungen, Down Syndrom. Außerdem empfohlen werden soll die Impfung Kindern, in deren Umfeld Menschen leben, die stark gefährdet sind, einen schweren Verlauf zu erleiden – und die selbst nicht geimpft werden können, wie kleinere Kinder mit Vorerkrankungen.
Herdenimmunität: Nicht alle Erwachsenen lassen sich impfen
Experten sind sich einig: Die Pandemie ist nur einzudämmen, wenn 80 Prozent aller Deutschen geimpft sind. Die Gruppe der 12- bis 16-Jährigen besteht aus rund drei Millionen Kindern. Eigentlich müssten diese Kinder nicht geimpft werden, wenn sich alle Erwachsenen impfen lassen würden. Da das nicht passiert, könnte der Beitrag der geimpften Kinder und Jugendlichen an der Herdenimmunität wesentlich sein.