Köln – Dr. Michael Winterhoff aus Bonn gehört zu den bekanntesten Kinder- und Jugendpsychiatern in Deutschland. Das liegt vor allem an seinem 2008 erschienenen Buch „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“. Seit der Ausstrahlung des WDR-Films „Warum Kinder keine Tyrannen sind. Das System von Dr. Winterhoff“ wird er mit dem Vorwurf konfrontiert, zahlreichen Kindern und Jugendlichen das beruhigende Neuroleptikum Pipamperon verschrieben zu haben – nach Ansicht anderer Kinderpsychiater zu lange und in einer zu hohen Dosierung. Wir beleuchten die Vorwürfe.
In seinem Buch vertritt Winterhoff die These: Digitalisierung und die immer stressiger werdende Gesellschaft setze Eltern unter Druck und führe zu immer mehr Auffälligkeiten bei Kindern. Die Eltern gingen mit ihren Kindern eine Symbiose ein und sähen sie als Partner, anstatt ihnen Grenzen zu setzen. Dadurch werde verhindert, dem Kind eine normale Entwicklung seiner Psyche zu ermöglichen. Wenn Kinder wie kleine Erwachsene auf Augenhöhe behandelt würden, müsse der Narzissmus-Anteil in ihnen zwangsläufig steigen.
Typische Diagnosen: „frühkindlicher Narzissmus“ und „Eltern-Kind-Symbiose“
Um diese Theorie geht es auch bei den Vorwürfen im Film „Warum Kinder keine Tyrannen sind. Das System von Dr. Winterhoff“, der am 9. August 2021 erstmals in der ARD ausgestrahlt wurde. (Der Film ist in der ARD-Mediathek abrufbar.) Reporter von WDR und „Süddeutscher Zeitung“ haben dafür in einer gemeinsamen Recherche mit mehr als 20 seiner ehemaligen Patienten aus seiner Bonner Praxis und verschiedenen Jugendeinrichtungen gesprochen, die Winterhoff deutschlandweit medizinisch berät.
Die Einsicht der Unterlagen habe ergeben, dass alle befragten Patienten von ihm die Diagnose „Entwicklungsretardierung mit Fixierung im frühkindlichen Narzissmus“ sowie „Eltern-Kind-Symbiose“ erhalten hätten. Das Autoren-Team legte Winterhoffs Arztberichte mehreren anderen Kinder- und Jugendpsychiatern vor, die im Film angeben, dass die Diagnosen nicht der üblichen Klassifizierung entsprächen. „Es gibt eine narzisstische Persönlichkeitsstörung als Diagnose, die würden wir Kindern und Jugendlichen aber nie stellen, weil Persönlichkeitsstörungen als Diagnose frühestens gestellt werden, wenn Menschen auch tatsächlich erwachsen sind", sagt der Kinderpsychiater Prof. Michael Schulte-Markwort im Film.
Winterhoff lässt dazu über seinen Presseanwalt Dr. Carsten Brennecke mitteilen, dass seine tiefenpsychologisch-analytische Diagnose „Fixierung im frühkindlichen Narzissmus“ eine gänzlich andere Bedeutung habe und weder gleichbedeutend noch ähnlich mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung sei. „Unser Mandant hat also die als zweifelhaft bewertete Diagnose nie getroffen. Die missverständliche Deutung seiner Diagnose könnte darin begründet liegen, dass diejenigen, die die Diagnose des Mandanten fehlinterpretiert haben, nicht tiefenpsychologisch ausgebildet sind, sondern verhaltenspsychologisch", schreibt Brennecke weiter.
Erzieherin: „Fährst du zum Winterhoff, hast du einen Narzissten und kriegst Pipamperon.“
Im Film werden noch andere schwere Vorwürfe gegen Winterhoff gemacht. Seine ehemaligen Patienten geben übereinstimmend an, nach der Diagnose das beruhigende Neuroleptikum Pipamperon erhalten zu haben. Eine Erzieherin aus einer der Einrichtungen sagt im Film: „Das ist immer so. Fährst du zum Winterhoff, hast du einen Narzissten und kriegst Pipamperon.“ Ziel sei es gewesen, die Kinder damit zugänglich für eine Therapie zu machen. Die befragten Kinder- und Jugendpsychiater kritisieren Winterhoff im Film für die Medikation. Pipamperon habe vor allem eine sedierende Wirkung und werde normalerweise nur in akuten Erregungszuständen eingesetzt. Winterhoffs Patienten hätten das Mittel aber teilweise über Jahre bekommen und berichten vor der Kamera von schweren Nebenwirkungen wie Apathie und starker Gewichtszunahme. Außerdem geben einige Eltern im Film an, keine Einwilligung zur Medikation erteilt zu haben.
Dr. Michael Winterhoff hat angekündigt, gegen die WDR-Berichterstattung vorzugehen
Winterhoff hat angekündigt, gegen die WDR-Berichterstattung vorzugehen, „da der Film seiner Ansicht nach Falschdarstellungen enthält“, teilt sein Presseanwalt Carsten Brennecke mit. „Das Medikament Pipamperon ist für Kinder mit psychomotorischen Erregungszuständen zugelassen und wurde nur dann verschrieben, wenn Kinder zum Beispiel von Aggressionen, Stimmungslabilität und Verwirrtheit beherrscht sind und für das Gegenüber nicht anders erreichbar sind. Herr Dr. Winterhoff setzt das Medikament in einer Dosierung ein, die zu keiner Sedierung führt. Der durch den WDR erweckte Eindruck, er habe das Medikament bei seinen Patienten flächendeckend eingesetzt, ist falsch. Das Medikament wurde nur in Einzelfällen mit spezieller Indikation verordnet“, heißt es weiter. Winterhoff schreibt in einer Stellungnahme auf seiner Homepage, dass Medikamente nie ohne die Zustimmung der Eltern verschrieben würden sowie Wirkung und Dosierung regelmäßig überprüft würden.
Nach der Erstausstrahlung haben sich nach Angaben des WDR mehr als 70 weitere Betroffene gemeldet. Einige haben sich zusammengeschlossen, um gemeinsam juristisch gegen den Kinderpsychiater vorzugehen. Bei der Staatsanwaltschaft Bonn sei laut „Süddeutscher Zeitung“ bereits eine erste Strafanzeige gegen ihn eingereicht worden. Die Ärztekammer Nordrhein habe eine berufsrechtliche Prüfung aufgenommen, wie die Ärztezeitung berichtet. Der Katholischen Nachrichtenagentur zufolge habe der Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln seine 60 Mitgliedsorganisationen, die als Träger in der Kinder- und Jugendhilfe aktiv sind, aufgefordert, die Zusammenarbeit mit Winterhoff kritisch zu überprüfen. Mit dem Jugendamt Sankt Augustin habe eine erste Behörde die Zusammenarbeit bis auf weiteres ausgesetzt, schreibt der Bonner „General-Anzeiger“.