Wolfgang Schiffer lag 56 Tage im Koma„Man rechnet nicht damit, dass es einen trifft“
- Sie sagt: Du hast dir dieses Virus eingefangen. Er sagt: Ach Quatsch.
- Eine Woche später muss Wolfgang Schiffer aus Jülich, Mitte 50 und ohne Vorerkrankungen, vom Notarzt abgeholt werden. Corona-positiv.
- Die Ärzte legen ihn ins Koma, acht Wochen lang. 161 Tage von Ehefrau Adelheid getrennt. Aber er überlebt. Nun lernt er wieder das Laufen.
- In der Statistik wird er mittlerweile wieder zu den Genesenen gezählt. Für ihn fühlt es sich nicht so an. Das Portrait.
- Aus unserem Archiv.
Jülich – Herr Schiffer kann nichts dafür, dass er die Decke nicht sehen kann. Es ist noch dunkel, nicht einmal sechs Uhr an diesem 17. März. Herr Schiffer liegt im Bett, erste Etage, in dem Haus, das er selbst gebaut hat, 52428 Jülich. Frau Schiffer liegt neben ihm und lauscht. Er hat so komisch geatmet, das hat sie wach gemacht. Durch die Nase und immer so tief. Das ist doch nicht normal. Wolfgang, alles gut?
Ich kann doch nichts dafür, dass ich die Decke nicht sehen kann.
Was redest du da, Wolfgang?
Wolfgang Schiffer, 54 Jahre alt, 95 Kilogramm, kaufmännischer Ausbilder von Beruf, weiß nicht, was er da redet.
Ich rufe jetzt den Notarzt, Wolfgang.
Was machen die mit mir?
Ich hoffe, die nehmen dich mit und machen dich gesund.
Seit einer Woche ist Herr Schiffer krank. Eine Bronchitis hatte der Hausarzt gesagt und Antibiotika verschrieben. Herr Schiffer hat nur gelegen, nichts gegessen. Frau Schiffer, Adelheid, aber alle sagen Heide, fand das nicht gut. Du hast dir dieses Virus eingefangen, hat sie gesagt. Ach Quatsch, hat er gesagt.
Die Sanitäter kommen in Schutzkleidung, Kittel, Maske, Handschuhe. 83 Prozent Sauerstoff im Blut. Viel zu wenig. Blutzuckerwert 400. Viel zu viel. Ist Ihr Mann Diabetiker? Nicht, dass ich wüsste.
Frau Schiffer darf nicht mit in den Rettungswagen. Darf ich ihm denn Kleidung nachbringen? Sie sind jetzt erst mal zwei Wochen in Quarantäne, sagt der Notarzt.
161 Tage getrennt von Ehefrau Adelheid
So erinnert sich Frau Schiffer an den Morgen, als ihr Mann abgeholt wurde, um für 161 Tage nicht mehr wiederzukommen. An einem Tag im September erzählen sie die Geschichte auf ihrer Terrasse.
Viele Momente in diesem Text stammen aus Frau Schiffers Erinnerung. Manche sind flüchtig, andere ganz klar. Alle helfen Herrn Schiffer zu verstehen, was eigentlich passiert ist. Denn in seinem Gedächtnis fehlen zwei Monate. Am selben Abend noch der Anruf aus dem Krankenhaus. Er ist positiv. Sie darf sich erst testen lassen, wenn sie Symptome bemerkt.
In zwei Wochen wollten sie in die USA fliegen, zu denen die Schiffers „Amerika“ sagen. Washington, Philadelphia, New York. Und die Tochter besuchen, Alina, 21 Jahre alt. Sie ist gerade als Au-pair in Virginia. Die Schiffers reisen gern, in ihrer Küche hängen Magnete als Beweise, wie viel sie schon von der Welt gesehen haben. Mallorca, Salzburg, Venedig, Zeeland, Dubrovnik.
Zwei Tage lang ist Herr Schiffer noch wach, zumindest ist er das, was man in so einem Zustand noch wach nennen kann. Er kriegt kaum Luft. Seine Lunge gibt auf. In der Medizin heißt das: Sie versagt. Warum, weiß niemand. Herr Schiffer hat keine Vorerkrankungen. Als es in Deutschland schon wieder dunkel und in Amerika noch hell ist, ruft Alina ein letztes Mal an. Mama, der Papa konnte kaum noch sprechen.
Ärzte wussten nicht, ob er die nächsten 24 Stunden schafft
Damit Herr Schiffer nicht erstickt, legen sie ihn in ein künstliches Koma und stecken ihm einen Schlauch in den Hals. Die Klinik in Düren kann ihm nicht mehr helfen, er wird nach Aachen in die Uniklinik verlegt. Die Ärzte notieren: Patient Wolfgang Schiffer, Fallnummer 1202232422. ARDS und Pneumonie bei Covid-19-Nachweis und Superinfektion. Herr Schiffers Lungenkapazität sinkt auf 70 Prozent. Auch sein Herz, seine Niere, seine Leber sind jetzt angegriffen. Eine Oberärztin wird später sagen: Herr Schiffer hat in Aachen jedes Gerät kennengelernt, das man auf der Intensivstation kennenlernen kann. Und, dass sein Zustand mehrmals so kritisch war, dass sie sich nicht sicher sein konnten, ob er die nächsten 24 Stunden schafft.
Am 22. März hat Herr Schiffer einen septischen Schock. In der Mehrzahl der Fälle führt der zum Tod. Zu Hause wartet Frau Schiffer darauf, dass ihr Mann überlebt.
Mehr kann sie nicht tun. Sie darf nicht zu ihm. Nur anrufen. In der Klinik geht immer ein anderer Arzt ans Telefon. Manche findet sie nett, andere weniger. Wie geht es ihm? Wieder besser.
Die Tochter ist inzwischen zurück. Der Sohn, Patrik, 25, war die ganze Zeit da. Auch er erkrankt, drei Tage 40 Fieber. Am vierten Tag steht er auf und fühlt sich, als wäre nichts gewesen.
Eingesperrt in den eigenen Träumen
Das Koma sperrt Herrn Schiffer in seinen Träumen ein. Einmal sitzt er in einem Container, der mit einem Kran in den Rhein gelassen wird. Kurz bevor er ertrinkt, ziehen sie ihn wieder raus. Ein anderes Mal liegt Herr Schiffer in einem Sarg und versucht, sich bemerkbar zu machen. Hallo, ich bin noch nicht tot. So wird er es später erzählen.
Familie Schiffer spricht auf einen MP3-Player, den sie zur Klinik schickt: Ich liebe dich, komm bitte schnell zurück, wir brauchen dich hier. Wir vermissen dich. Du musst kämpfen.
Als ich ihm das vorgespielt habe, sagt die Schwester zu Frau Schiffer, ging sein Puls hoch. Die Ärzte sagen, er ist jetzt auf dem Weg der Besserung, vielleicht können wir ihn bald aufwecken.
Weniger als die Hälfte der Covid-19-Patienten in Deutschland, die künstlich beatmet werden mussten, überlebt. So legt es eine Kohortenstudie nahe.
Rückschlag
Am 13. April schreibt Frau Schiffer in ihren Kalender: „Rückschlag“.
Herrn Schiffers Lunge kann das Kohlendioxid nicht mehr abgeben. Sein Blut übersäuert.
Bekommt die Lunge das CO2 nicht mehr aus dem Körper, ist ein Mensch nicht mehr lebensfähig. Es gibt ein Gerät, das für kurze Zeit, vielleicht zehn Tage, diese Funktion übernehmen kann. Danach muss die Lunge wieder alleine funktionieren.
Die Ärzte schreiben in den Bericht: Ultima Ratio.
Sie sollten darüber nachdenken, was Ihr Mann gewollt hätte, Frau Schiffer.
Frau Schiffer sagt, sie ist ein Mensch, der mit dem Kopf denkt, nicht mit dem Herzen.
Was wenn es passiert?
Sie ruft ab jetzt nur noch jeden zweiten Tag an. Öfter machen ihre Nerven nicht mit.
Am 28. April schreibt Frau Schiffer in ihren Kalender: „Ab hier geht es wieder aufwärts.“
Herr Schiffer wird verlegt. Auf der Weaning-Station soll er wieder selbst atmen lernen. Nach 56 Tagen, acht Wochen, zwei Monaten im künstlichen Koma ist Herr Schiffer wieder wach.
Die Arme kann er ein bisschen bewegen, die Beine sind schwer wie Steine. Für die Beatmung hat Herr Schiffer im Koma einen Luftröhrenschnitt bekommen. Er versucht etwas zu sagen, aber da kommt kein Ton.
Herr Schiffer, haben Sie Schmerzen, geht’s Ihnen gut? Er schüttelt den Kopf, keine Schmerzen, er nickt.
Mir geht’s gut.
11. Mai. Frau Schiffer ruft in der Klinik an. Macht er Fortschritte?
Er hat eine Sprechkanüle bekommen, sagt die Schwester. Wollen Sie mal mit ihm reden?
Sie läuft los. Wie ein Teenager, sagt sie, und holt die Kinder. Wir können mit Papa telefonieren.
Wie geht es dir, Wolfgang?
Gut und euch?
Nach vielleicht fünf Minuten legen sie auf.
Tags darauf klingelt das Telefon. Herr Schiffer ist dran.
Wow, jetzt rufst du schon selbst an?
Warum, darf ich das nicht?
Doch, sicher.
Am 20. Mai lockert die Landesregierung die Auflagen für Besuche in Krankenhäusern. Frau Schiffer fährt sofort hin.
Vor seinem Zimmer muss sie Kittel anziehen und Schutzbrille. Sie sieht ihn von draußen.
Um Gottes willen, wer liegt da? Wolfgang Schiffer hat 25 Kilo abgenommen. Sein Gesicht ist fahl, die Knochen stehen vor.
Ich wusste zwar, er ist es. Aber da war nichts mehr, was vertraut ist. Aber allein, dass er noch da war – das war schon toll.
Sie darf eine halbe Stunde bleiben. Drücken darf sie ihn nicht. In sechs Tagen, sagen die Ärzte, bringen wir ihn in die Frühreha. Bad Lippspringe, am Rand des Teutoburger Waldes. Zweieinhalb Stunden Fahrt.
Ich hatte ihn doch gerade erst wieder.
Dieses Mal packt sie ihm einen Koffer. Lange Hosen, Schuhe, Pullover. Braucht er alles nicht.
Herrn Schiffers Muskeln haben sich zurückgebildet. Die Nerven sind schwer beschädigt. Besonders die in den Knien. Er kann seine Füße nicht anheben. Er muss wieder laufen lernen.
Physiotherapie, Einzelzimmer, Zeit zum Nachdenken
Morgens, vormittags und nachmittags hat Herr Schiffer je 20 Minuten Physio-Therapie. Sonst liegt er im Bett, Einzelzimmer. Viel Zeit zum Nachdenken. Hab ich im Leben nicht zu wenig Zeit mit der Familie verbracht?
Herr Schiffer ist Musiker. Fast jedes Wochenende stand er als Alleinunterhalter auf der Bühne. Schützenfeste, Hochzeiten, Karneval. In diesem Jahr hätte er noch 27 Auftritte gehabt.
Auf Youtube findet man ein Video, in dem ein kräftigerer Herr Schiffer am Keyboard steht und singt. „Wir sind von Null auf Hundert in nur drei Sekunden. Und vor morgen früh sind wir nicht wieder unten.“ Wolfgang Schiffer ist gerade ganz unten. Wenn er im kommenden März wieder halbtags arbeiten kann, sagen die Mediziner, wäre das ein echter Erfolg.
Einmal kommt ein Fernsehteam in der Frühreha vorbei und fragt Herrn Schiffer, was sein Ziel ist, wo er denn hinwill.
„Wieder der Alte zu werden“, sagt Herr Schiffer. „54 Jahre gebraucht, um so zu werden wie ich war. Jetzt möchte ich da auch wieder hin.“
Mit seiner Frau telefoniert er jeden Tag.
Ich habe einen Koller, Heide, ich will nach Hause.
Was soll ich hier mit dir machen, wenn du nicht laufen kannst, Wolfgang?
Einmal streiten sie. Die Schiffers sagen dazu zanken. Schon länger wollen sie sich einen Brunnen in den Garten bauen. Sie hat sich informiert, wie das gehen könnte.
Er sagt: Frag mal den und den.
Es klingt für sie wie eine Anweisung aus der Ferne.
Sie sagt: Pass mal auf mein Freund, du musst mir nicht sagen, was ich zu tun und zu lassen habe.
Dann legt sie auf.
Vorher hat er sich ja um sowas gekümmert. Bankangelegenheiten. Hausangelegenheiten. Und plötzlich wurde sie da einfach so reingeworfen.
Tut mir leid, dass ich gestern so bevormundend war, Heide.
Mir auch, aber ich kann nicht mehr, Wolfgang.
Der Arzt sagt, schreien Sie Ihre Nerven an, Herr Schiffer. Wenn Sie eine Treppenstufe gehen können, sind Sie bereit für die richtige Reha.
Nach zehn Wochen kann er. Nach drei weiteren Wochen darf er nach Hause. Am 25. August. Nach 161 Tagen.
Er wünscht sich ein gegrilltes Steak. Sie macht ihm eins. Er schmeckt nur salzig und bitter, aber es tut gut, nicht mehr Krankenhauskost essen zu müssen.
Noch immer kribbeln die Hände, sagt er. Ohne Spezialschuhe kann er nicht gehen, sie verhindern, dass die Füße ständig nach unten absacken. Für kurze Strecken braucht er den Stock, für längere den Rollator. Morgens bringt er seiner Frau damit das Frühstück. Er will sich nützlich machen. „Essen auf Rädern“, sagt sie dazu. Sonst ist es Frau Schiffer, die hilft. Beim Anziehen, beim Duschen. Beim Öffnen einer Wasserflasche.
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In der Statistik der Corona- Fälle wird Wolfgang Schiffer mittlerweile zu den Genesenen gezählt.
Er fühlt sich nicht so.
Herr Schiffer wird nie wissen, warum gerade er. Er ist nicht alt. Er hatte doch vorher nichts. Das widerspricht doch allem, was die Experten gesagt haben. Er wird auch nie wissen, wo er sich angesteckt hat.
Herr Schiffer sagt, man rechnet nicht damit, dass es einen selbst so trifft, und umso schlimmer ist es zu akzeptieren, dass es jetzt so ist.
Ich weiß gar nicht, warum ich immer weinen muss, Heide.
Lass raus, du hast ja viel zu verarbeiten, Wolfgang.
Nächstes Jahr sind sie 30 Jahre verheiratet. 1985 haben sie sich kennengelernt. Schützenfest. Er auf der Bühne, sie davor.
Herr Schiffer hat seinen Sohn gebeten, das Keyboard aus dem Keller zu holen. Es steht jetzt am Esstisch. Gegenüber hängt ein Spruchbild an der Wand: „Eine Familie zu sein heißt: Dein Leben mit Menschen zu teilen, die deine Vergangenheit kennen, an deine Zukunft glauben und dich so lieben, wie du bist!“
Eine Woche hat er sich nicht getraut zu spielen. Weil er Angst hatte, dass seine Finger nicht machen, was sein Kopf will. Eines Tages kommt Frau Schiffer vom Einkaufen. Und er sitzt da und drückt die Tasten. Funktioniert.
Jeden Dienstag und Donnerstag muss Herr Schiffer jetzt zur Physiotherapie. Seine Frau fährt ihn. 20 Minuten macht er dann Übungen mit einem Therapeuten. Stufe rauf, Stufe runter. Gewichtsverlagerung links, Gewichtsverlagerung rechts. Später noch an den Geräten im Studio. Neben Herrn Schiffer ziehen Männer mit vielen Muskeln 90Kilo in die Höhe. Er radelt. Langsam, keuchend.
Es wirkt dann so, als hätten die 56 Tage Koma Herrn Schiffer 20 Jahre älter gemacht.
Er hat Glück, dass es keine kognitiven Schäden sind, sagt sein Physiotherapeut. Das kriegen wir alles wieder hin, das braucht nur Zeit, Herr Schiffer. Aber Sie sind ja ein Kämpfer.
Es ist ja alles da, es muss nur wieder funktionieren, sagt Herr Schiffer. Sie holt ihn ab. Komm, Wolfgang. Hält ihm die Hand hin, will ihn zum Auto führen. Nein, sagt er. Das muss auch langsam mal alleine gehen.
Dieser Artikel stammt aus unserem Archiv und wurde zuerst im September 2020 veröffentlicht.