2022 sind in Deutschland deutlich mehr Menschen gestorben, als zu erwarten gewesen wäre. Mit Daten und Grafiken zeigen wir, woran das liegt.
Hohe Übersterblichkeit 2022Woher kommen die vielen Toten?
Eine Zahl gibt Statistikern, Medizinern und Epidemiologen Rätsel auf: 1,06 Millionen. So viele Menschen sind laut Statistischem Bundesamt im vergangenen Jahr in Deutschland gestorben. Das sind 3,4 Prozent mehr als noch 2021. Obwohl sich Deutschland zunehmend aus dem Würgegriff des Corona-Virus befreit, obwohl Impfungen, Immunität und die weniger tödliche Omikron-Variante im vergangenen Jahr das Ende der Pandemie eingeläutet haben, sind mehr Menschen gestorben als in den Jahren zuvor. Warum ist das so?
Sterbefallzahlen in Deutschland steigen immer weiter an
Dass die Zahl der Sterbefälle zunimmt, ist zunächst nichts Ungewöhnliches. Da der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung zunimmt, wird in Deutschland seit etwa 20 Jahren mit einem jährlichen Anstieg der Sterbefälle gerechnet. Gleichzeitig stieg aber vor Beginn der Corona-Pandemie auch die durchschnittliche Lebenserwartung, was den Alterungseffekt wiederum abschwächte. Ungewöhnlich an der Zahl der Sterbefälle im vergangenen Jahr ist jedoch das Ausmaß: Nach vorläufigen Berechnungen kann durch die steigende Zahl älterer Menschen nur etwa ein Fünftel des gesamten Anstiegs im Jahr 2022 erklärt werden.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Analyse des Ifo-Instituts. Insgesamt starben in den Corona-Jahren 2020 bis 2022 180.000 Menschen mehr als zu erwarten gewesen wäre. „Überraschend ist, dass sich die Übersterblichkeit im Jahre 2022 noch einmal beschleunigt hat“, sagt Joachim Ragnitz, stellvertretender Leiter der ifo-Niederlassung Dresden. 2021 gab es laut dem Forschungsinstitut 68.000 zusätzliche Todesfälle, ein Jahr später waren es fast 74.000.
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Es stellt sich also weiterhin die Frage: Warum sind 2022 so viel mehr Menschen gestorben, als zu erwarten gewesen wäre?
Die Antwort ist komplex: Ein Teil der erhöhten Sterbefallzahlen ist auf die Coronawelle im Frühjahr zurückzuführen, was unsere Grafik unten verdeutlicht. Der hellrote Bereich zeigt, wie groß der Anteil der Corona-Toten an den Sterbefällen ist. Bis Mai lässt sich die Übersterblichkeit mit diesen Corona-Toten erklären. Gäbe es sie nicht, würden sich die Sterbefallzahlen 2022 im Bereich des Medians der letzten Jahre bewegen (blaue Linie).
Dies änderte sich im Laufe des Jahres. Die Corona-Toten machen nur noch einen kleinen Teil der erhöhten Sterbefallzahlen aus.
Hohe Übersterblichkeit nicht allein durch Corona-Tote zu erklären
Vor allem im Sommer sowie ab Oktober ist dies zu erkennen. Hier zeigt sich deutlich, dass die hohe Übersterblichkeit nicht mehr allein durch die Zahl der Corona-Toten erklärt werden kann. In unserer Grafik klafft zwischen hellrotem und hellblauem Bereich, der die Bandbreite der Todesfallzahlen in den vergangenen vier Jahren darstellt, eine breite Lücke.
Der gleiche Trend zeigt sich in Nordrhein-Westfalen. Auch hier stiegen die Todeszahlen vor allem im Dezember 2022 besonders stark an. Zu diesem Zeitpunkt lagen die Sterbefallzahlen um mehr als 20 Prozent über dem Vergleichswert der vier Vorjahre.
„Ungewöhnlich sind nicht unbedingt die Spitzen der Übersterblichkeit"“, sagt Jonas Schöley, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für demografische Forschung. Auch bei starken Grippewellen wie im Winter 2016/17 hätte in der Spitze eine Übersterblichkeit von rund 20 Prozent beobachtet werden können. „Ungewöhnlich ist, dass wir seit dem Sommer eine anhaltende Übersterblichkeit von zumeist mehr als zehn Prozent sehen.“
Woran sind die Menschen gestorben? Todesursachenstatistik gibt Auskunft
Das Problem: Man weiß zwar, dass ungewöhnlich viele Menschen gestorben sind, aber in den allermeisten Fällen noch nicht, woran. Das Robert-Koch-Institut (RKI) erfasst lediglich, wie viele Menschen an Corona gestorben sind. Woran die Menschen aber abgesehen davon sterben, ob an einem Herzinfarkt oder an einer Grippe, wird erst in der amtlichen Todesursachenstatistik festgehalten – und diese wird erst im Herbst des Folgejahres veröffentlicht.
Auch über die Situation in Köln liegen nur wenige Daten vor. Die Sterbezahlen bis September deuten auch hier auf eine Übersterblichkeit hin, die Daten für das letzte Quartal könne das Statistikamt aber erst Ende März 2023 zur Verfügung stellen, wenn alle Nachmeldungen eingegangen seien, heißt es bei der Stadt.
Diese statistische Unsicherheit hat wohl auch zur Folge, dass Verschwörungstheorien über die vielen Toten florieren. So forderte die AfD im Dezember in einer eigens anberaumten Pressekonferenz die Bundesregierung auf, die Corona-Impfungen auszusetzen. Diese seien für die vielen Todesfälle verantwortlich, so die Begründung der AfD. Schnell stellte sich heraus: Die Zahlenbasis, mit der die AFD einen Zusammenhang zwischen Impfungen und Toten hergestellt hat, war falsch interpretiert worden.
Corona-Impfungen haben nichts mit Übersterblichkeit zu tun – im Gegenteil
Auch Schöley weist diese These zurück: „Das ist natürlich eine wichtige Frage, deswegen wird sie auch weltweit ständig untersucht. Doch die Antwort ist eindeutig: Die Impfungen haben nichts mit der Übersterblichkeit zu tun. Ganz im Gegenteil können mehrere Studien belegen, dass durch die Corona-Impfung das Sterberisiko sinkt.“
Die plausibelste Erklärung für die vielen Toten sieht Schöley in einer „Doppelbelastung von Corona auf der einen und Influenza-Viren auf der anderen Seite.“ Mit Corona ließen sich vor allem die Toten Anfang des Jahres erklären. Später rollte eine ungewöhnlich frühe und große Grippewelle auf das Land zu. Das zeigen auch Schätzungen des RKI: In den Wochenberichten zu akuten Atemwegserkrankungen verzeichnet das Institut einen deutlichen Anstieg von Atemwegserkrankungen in zwei Wellen: Ende August und Ende Oktober. „Der Höhepunkt der Sterbezahlen im Oktober folgt also, wie unter einem kausalen Zusammenhang erwartet, mit zwei Wochen Verzögerung auf dem Höhepunkt einer Infektionswelle“, sagt Schöley.
Auch das Alter der Toten spreche für die These: „Die Übersterblichkeit konzentriert sich stark auf die Altersgruppe zwischen 65 und 85 Jahren, das ist auch typischerweise die Gruppe, die durch Infektionskrankheiten am gefährdetsten ist.“ Auch eine vor Kurzem veröffentliche Analyse des Ifo-Instituts zeigt das.
Professor Bernd Böttiger schließt sich dieser These an. Er ist Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin an der Uniklinik Köln und Bundesarzt des Deutschen Roten Kreuzes. „Ab September ist auf unsere Klinik eine riesige Infektionswelle zugerollt.“ Während Influenza- und andere Viren durch die Coronaschutzmaßnahmen praktisch kaum noch eine Rolle gespielt hätten, kamen sie in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres umso wuchtiger zurück. Böttiger ärgert das: „Man hätte die Schutzmaßnahmen nicht vor dem Winter zurückfahren sollen. Wir wussten ja, dass das die perfekte Zeit für Infektionskrankheiten ist.“ Vor allem in der Belegschaft sei die erhöhte Virenaktivität spürbar gewesen. Mehr als zehn Prozent der Angestellten seien krank gewesen. „Normal sind drei bis vier.“
Influenza und Hitzewelle Schuld an den vielen Toten?
Auf Patientenseite ist die Situation komplizierter: „In den letzten beiden Jahren haben wir in der Klinik einen extremen Anstieg der Todeszahlen gesehen. Das war vor allem Corona geschuldet.“ Die Uniklinik habe sich schwerpunktmäßig auf die Behandlung von Corona-Patienten konzentriert. Deswegen hätten sich dort auch die Todesfälle gehäuft. „Jetzt sind wir, was die Todeszahlen angeht, wieder auf vorpandemischem Niveau.“ Die Übersterblichkeit ließe sich nicht in der Klinik selbst ablesen. Böttigers Vermutung: „Entweder sind die schweren Influenza-Fälle in anderen Kliniken gewesen, oder die Menschen sind vermehrt zuhause gestorben.“
Doch das ist auf kommunaler Ebene kaum nachzuvollziehen: Schwere Atemwegserkrankungen, so die Stadt Köln, seien nicht meldepflichtig. Wenn jemand mit einer Grippe im Krankenhaus landet, erfährt das Gesundheitsamt davon in der Regel nichts.
Auch für den zweiten großen Höhepunkt der Sterbefallzahlen zwischen Juli und August gibt es einen Erklärungsansatz. Sowohl das Statistische Bundesamt als auch das Ifo-Institut führen die Hitzewelle als möglichen Grund für die vielen Toten auf. Das RKI schätzt, dass allein durch die Hitzerekorde im Sommer 4500 Menschen in Deutschland gestorben seien. Auch Böttiger ist überzeugt davon, dass die hohen Temperaturen für die vielen Toten im Juli und August verantwortlich sind. „Diesen Effekt kennen wir aus früheren Hitzeperioden.“
Jonas Schöley allerdings meldet Zweifel an der These der Hitzetoten an. „Die Hitze im Sommer kann zwar durchaus einen Beitrag an der Übersterblichkeit haben, aber normalerweise ist dieser Effekt auf wenige Wochen begrenzt. Diesen langanhaltenden Peak über zwei Monate, wie wir ihn im letzten Jahr sehen, kann die Hitzewelle meiner Meinung nach aber nicht erklären.“
Wie stark sich Influenza, Corona, Hitzewelle und andere Faktoren tatsächlich auf die Übersterblichkeit im Jahr 2022 ausgewirkt haben, wird man abschließend wohl erst Ende des Jahres beurteilen können – wenn die Statistik über Todesursachen veröffentlicht wird.