Sexualtherapeutin Karina Kehlet erklärt im Interview, was einvernehmlicher Sex bedeutet und wie man junge Frauen besser schützt.
Skandal um Rammstein-Sänger Till LindemannWann ist Sex freiwillig – und wann Machtmissbrauch?
Frau Kehlet, der Begriff „Consent“ steht für Einvernehmlichkeit beim Sex. Aber sollte es nicht ohnehin selbstverständlich sein, dass Sex nur im Einvernehmen stattfindet? Warum brauchen wir heute solche Begriffe?
Consent bedeutet, dass die Beteiligten freiwillig Sex haben, nicht dazu gedrängt oder manipuliert wurden, dass sie in der Lage waren, diese Entscheidung frei zu treffen und jederzeit aufhören können. Von „Enthusiastic consent“ spricht man, wenn die Beteiligten nicht nur einverstanden mit dem Sex sind, sondern eindeutig Lust und Freude daran haben.
Das alles sind Dinge, die vor allem für Frauen lange Zeit nicht selbstverständlich waren. Heute ist es viel klarer, dass Frauen beim Sex nicht die Dienstleisterinnen sind und auch mal Nein sagen dürfen. Es steht viel, viel mehr auch die weibliche Lust im Vordergrund. Durch #MeToo wurde eine Art neue sexuelle Revolution eingeläutet.
Über Consent wird derzeit auch in Zusammenhang mit dem Rammstein-Skandal diskutiert. Junge Frauen werfen dem Sänger Till Lindemann vor, ihm systematisch backstage für schnellen Sex zugeführt worden zu sein, ohne vorher davon zu wissen. Inzwischen ermittelt die Berliner Staatsanwalt wegen „Tatvorwürfen aus dem Bereich der Sexualdelikte und der Abgabe von Betäubungsmitteln“. Lassen wir das Strafrechtliche einmal außen vor. Wie beurteilen Sie die Vorfälle?
Aus meiner Sicht ist das ganz klar ein Fall von Machtmissbrauch. Denn im Verhältnis zwischen Stars, Fans und Groupies besteht ein deutliches Machtgefälle, ähnlich wie zwischen Professor und Studenten oder Chefs und Angestellten. Leider sind sich Leute, die viel Macht bekommen, dessen oft nicht bewusst, man könnte auch von einer Art Machtblindheit sprechen.
Offenbar wurden die jungen Fans auch für Sex mit Lindemann ausgewählt, ohne davon zu wissen. Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einem abgetrennten Raum im Backstagebereich, davor stehen Security-Männer. Alkohol und Drogen sind vielleicht noch im Spiel. Und dann finden sich die Fans plötzlich in der Situation wieder, als „Auserwählte“ alleine mit Lindemann zu sein, der Sex will. In so einer Situation kann man leicht überfordert sein. Das kann Angst auslösen und der Instinkt übernimmt.
In Extremsituationen schalten wir in den „Fight, flight or freeze“-Modus um, das heißt, wer sich nicht wehren kann, flüchtet, wie es ja eine der jungen Frauen getan hat. Andere gehen in den „Freeze“-Modus und erstarren. Eine weitere Möglichkeit ist „Appease“ – also aus Verunsicherung und Angst heraus mitzuspielen und zu tun, was verlangt wird. Und plötzliche kniee ich mich dann hin und gebe Till Lindemann einen Blowjob. Danach fühle ich mich schlecht, will aber nicht darüber sprechen, so scheint es mehreren Frauen gegangen zu sein. Das kann dann zum traumatisierenden Ereignis werden.
Wenn Drogen im Spiel sind, die einige Frauen wohl auch freiwillig genommen haben – ist es dann nicht unheimlich schwierig, zu erkennen, was jemand „wirklich“ im Sinne von „consent sex“ will?
Genau deshalb ist es ja so wichtig, dass darüber vorher Absprachen getroffen werden. Es wäre essentiell, dass man vorab klar macht, was passieren soll. Man hätte also den Frauen sagen müssen: Hier werden Alkohol und Drogen konsumiert und ihr trefft nachher Till Lindemann und der möchte mit einem Fan Sex haben. In der „Sex positiv Szene“, wo es auch zu spontanem Sex zwischen Fremden kommt, ist das so. Da kann man auch zum Beispiel vorher festlegen, ob Drogen oder Alkohol konsumiert werden dürfen oder nicht.
Lindemann ist 60 Jahre alt, die meisten der Frauen waren sehr jung, um die 20. Finden Sie auch das problematisch, weil dadurch Ungleichheit entsteht?
Da muss ich ehrlich sagen: Das Alter ist hier für mich egal, wenn jemand volljährig ist. Da muss man aufpassen, das nicht moralisch zu bewerten, denn darum geht es hier für mich nicht. Allerdings wurde ja offenbar das Alter auch nur abgefragt und nicht überprüft, es könnten also theoretisch auch Minderjährige dabei gewesen sein.
Lindemann hatte vor zwei Jahren ein pornografisches Musikvideo veröffentlicht, in dem er teils recht brutal Sex mit verschiedenen Frauen hat. Sado-Maso-Praktiken werden angedeutet. Sind Praktiken, bei denen Frauen die unterwürfige Rolle einnehmen, im Hinblick auf Consent per se problematisch?
Sadomasochismus ist ok, wenn es einvernehmlich ist und unter Erwachsenen stattfindet und das Video wurde ja offenbar mit Pornodarstellerinnen gedreht. Ein Musikvideo mit SM-Szenen wurde übrigens schon vor vielen Jahren von den Nine Inch Nails zu ihrem Song „Closer“ veröffentlicht. Das Video hatte ein schöne Ästhetik. Aber natürlich muss man bei solchen Videos auch darüber diskutieren: Ist das noch Kunst? Und darüber, wie viel man wirklich zeigen muss. Ich halte es für problematisch, wenn junge Leute heute laut Umfragen glauben, dass Würgen beim Sex etwas völlig Normales sei. Solche Diskussionen müssen wir führen und zwar mit Offenheit, wenn wir junge Frauen besser schützen wollen.
Man kann zum einen Regeln für Sex mit Fremden aufstellen. Aber wie stellt man eigentlich Consent bei regelmäßigem Sex in einer Beziehung sicher? Ist es problematisch, Sex mit dem Partner oder der Partnerin zu haben, obwohl man eigentlich keine Lust hat?
Traumata können auch im ganz Alltäglichen entstehen. Früher war es relativ verbreitet, dass Frauen auch gegen ihren Willen Sex hatten. Es gibt aber auch heute noch Frauen, die zum Beispiel zweimal die Woche ohne Lust Sex mit ihrem Partner haben, weil sie wissen, dass er sonst gewalttätig wird gegen die Kinder. Das kann dann zur Traumatisierung führen.
Etwas ganz anderes ist es, wenn man sich ohne Lust zum Sex entscheidet oder überreden lässt, weil man weiß, dass die Lust dabei entsteht. Denn schon vorher große Lust auf Sex zu haben ist etwas, was meist nur am Anfang einer Beziehung vorkommt, das hat die Sexualforschung gezeigt.
Und was ist, wenn keine Lust entsteht und man regelmäßig Sex hat, aber wirklich nur dem Partner oder der Partnerin zuliebe? Ist das auch in einer langjährigen Beziehung in Ordnung?
Wichtig ist dann, wie man sich nachher fühlt. Da sollte man in sich hineinhören. Oder man hat eher ein unangenehmes Gefühl, dann sollte man es eher lassen. Sex als Geschenk kann toll sein, solange es nicht zur Pflicht wird. Mit einer Pflicht verschwindet die Lust, und auch nachher geht es einem meistens nicht gut.
Wie spürt man denn eigentlich am besten, was man selber will? Wenn ich beim Sex etwas Neues ausprobieren möchte, weiß ich ja vorher auch noch gar nicht, ob es mir wirklich gefällt. Oder man hat immer nur „Blümchensex“.
Manchmal weiß man tatsächlich nicht, was man will. Und manchmal kommt es beim Sex zu Grenzverletzungen, und die können im Nachhinein sogar gut gewesen sein. In anderen Fällen sind sie stattdessen traumatisierend, und das kann auch beim „Blümchensex“ passieren. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht und das macht ja auch die Spannung beim Sex aus, sich an diese Grenzen zu wagen. Und es kann immer auch passieren, dass das eigene Ego Überhand gewinnt und man vielleicht die Grenzen des anderen überschreitet.
Wie lässt es sich vermeiden, die Grenzen anderer zu verletzen?
Bei „Sex Positive Partys“ gibt es zum Beispiel klare Regeln: Keiner darf einen anderen Körper berühren, ohne vorher zu fragen. Wer ungefragt grapscht, fliegt raus. Hilfreich ist es in jedem Fall, dass man vor oder auch beim Sex gut kommuniziert. Von BDSM können wir im Hinblick auf Consent tatsächlich sogar sehr viel lernen: Denn es gehört dazu, dass sehr gut kommuniziert wird, zum Beispiel nach dem Ampelsystem: Grün heißt „alles ok“, gelb heißt „Vorsicht“ und rot heißt „stopp“.
Wenn jemand ständig nur fragt: „Magst du dies, magst du das?“ kann das aber auch zu viel des Guten sein und die Stimmung kaputtmachen ...
Ja, das ist auf die Dauer vielleicht nicht sexy und jemand, der sich so verhält, ist auch gar nicht mehr richtig bei sich selbst. Sexy ist zu wissen, was ich selbst will, das kann dann ein Angebot sein. Wenn ich mit meinem Partner oder meiner Partnerin zusammen bin und ich will einen Kaffee, sage ich meistens: Ich mache mir einen Kaffee, willst du auch einen? So sollte man es mit dem Sex handhaben. Man kann einfach sagen: „Ich habe Lust, du auch?“
Manche Männer sagen, dass sie seit dem Aufkommen der #MeToo-Bewegung im Umgang mit ihrer Sexualität nun verunsichert sind.
Es gibt auch heute immer noch viele Männer, die behaupten, das ist doch mein Recht, Sex zu haben. Vor allem bei jüngeren Männern gibt es aber ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass Consent wichtig ist. Sie machen sich über viele Dinge Gedanken, auch darüber, wie sie sich richtig gegenüber Frauen verhalten sollen. Viele sind tatsächlich verunsichert und denken, ich darf jetzt gar nichts mehr sagen. Das ist auch ein Problem. Man muss nicht immer alles überdenken. Das A und O ist es, aufeinander zu hören und auch auf sich selbst. Die Leute sollen ja Sex haben, wenn sie es wollen, und auch Spaß dabei haben.