Die Leere wird uns in der Weihnachtszeit besonders schmerzlich bewusst. Wie unser Autor mit seinen persönlichen Verlusten zu leben gelernt hat.
Weihnachten ohne geliebte MenschenWie ich lernte, mit dem Schmerz des Vermissens zu leben
Eine Leserin hat mich neulich gefragt, ob ich nicht etwas über diese schreckliche Lücke an Weihnachten schreiben könnte, das Vermissen von Menschen, die nicht mehr da sind. Ich erwog, abzulehnen, denn ich empfinde mich nicht als Experte für Weihnachten, das ich dieses Jahr wieder an einem Punkt verbringen werde, den das GPS mit 16,53 Grad nördlicher Breite und 99,19 Grad östlicher Länge definiert. Also weit weg von den Orten meiner Kindheit, an denen ich Weihnachten mindestens so sehr fürchten wie lieben gelernt habe.
Andererseits hat Erich Kästner „Das fliegende Klassenzimmer“, mein Lieblingsbuch der Jugend, obwohl es bei klirrender Kälte um die Weihnachtszeit spielt, im Sommer sehr überzeugend in seiner geliebten bayrischen Alpenfrische geschrieben. Und im Vermissen bin ich, wie fast alle Menschen, ein großer Experte. Es spricht also nichts dagegen, jetzt und hier bei 28 Grad in Thailand nahe der Grenze zu Myanmar über dieses Thema nachzudenken.
Die Weihnachtszeit ist nichts für Weicheier und Schwächlinge wie mich
Zunächst einmal sollten wir uns ganz im Klaren darüber sein, dass die Weihnachtszeit nichts für Weicheier und Schwächlinge wie mich ist. Sie verlangt von allen, die sich darauf einlassen, Höchstleistungen im Bereich der Emotionalität. Das moderne Leben hat aus Weihnachten einen unbarmherzigen, umsatzträchtigen Jingle-Bells-Wettbewerb gemacht, in dem der individuelle Glücksstatus materiell und digital dokumentiert werden kann, weshalb es heute noch leichter ist als früher, sich auf diesem Schlachtfeld als Verlierer zu fühlen.
Glücklich kann sich schätzen, wer Teil einer über mehrere Generationen intakten Familie ist oder über die spirituelle Kraft verfügt, sich auf die wesentliche Bedeutung des Weihnachtfestes zu besinnen. Diese Segnungen geben Halt beim gemeinsamen Feiern und beim Vermissen von Menschen, die nicht mehr da sind, aber auch sie befreien nicht von Einsichten, die diesem Gefühl das Schreckliche nehmen. Denn das Vermissen ist keine Lücke, es zeigt auch keine an. Die Lücke entsteht, wo es fehlt. Wie anders sollte unsere Liebe die Gegangenen und Abwesenden erreichen als durch das Vermissen, diese Brücke ins Metaphysische? Es ist Ausdruck der Bedeutung, die ein anderes Leben in unserem hat und wäre uneingeschränkt positiv ohne den Schmerz, der es begleitet.
Dieser Schmerz gilt uns selbst, den Zurückgelassenen
Dieser Schmerz gilt uns selbst, den Zurückgelassenen. Wie viele Menschen habe ich ihn oft erlebt, am stärksten nach dem Tod meiner Stieftochter, die 1997 im Alter von sechs Jahren an einer Krankheit starb. Dass wir als Familie irgendwann ohne den Preis ewiger Trauer weiterleben konnten, zeigt, wozu die menschliche Seele imstande ist und welche Kraft auch das Vermissen hat, wenn es von der scheinbaren Verpflichtung zum Schmerz getrennt werden kann, die uns eine falsche Moral permanent einflüstern will. Nein, wir dürfen auch Momente der Unbeschwertheit und des Glücks empfinden, wenn uns zuvor auf tragische Weise ein Unglück wie der Verlust geliebter Menschen widerfahren ist.
An den emotionalsten Tagen des Jahres vermissen wir allerdings auch Menschen, die noch leben, was sogar komplizierter ist, denn sie könnten ja theoretisch noch bei uns sein. Hier liegt der Schmerz in der Schuldfrage: Warum sind sie es nicht? Wer trägt die Verantwortung? Wer hat die größten Fehler gemacht, am Ende vielleicht sogar ich? Hier werden wir Opfer unserer immerwährenden Suche nach Kausalität, denn es muss alles einen Grund haben. Ich kenne wenige größere Anhänger der Lebenstheorie von Ursache und Wirkung als mich, aber es muss als erwiesen gelten, dass sie auf dem Gebiet der intimen menschlichen Gefühle auf eine Weise wirkt, die für uns niemals im Detail sichtbar gemacht werden kann.
Gerade hier, wo wir die Schuld am meisten suchen, trifft sie uns vermutlich am wenigsten. Das größte Geschenk hat die Natur denen gemacht, die Geschehenes akzeptieren und weitermachen können. Mein stärkstes Vermissen außer dem meiner Tochter gilt Menschen, die noch leben, aber es ist inzwischen uneingeschränkt positiv, weil ich weiß, dass es ihnen wie mir gut geht und die beschränkte gemeinsame Zeit ein Abschnitt des Weges dahin war.
Es müsste in der deutschen Sprache ein Wort geben, das dieses Vermissen ohne Schmerz bezeichnet. Mir fällt keines ein. Gedenken passt in meiner Vorstellung nicht, weil ich bei Gedenken offiziell trauernde Menschen an Grabsteinen oder symbolischen Orten vor mir sehe. So traurig ist es nicht. Der Begriff Wertschätzen umfasst auch nur einen Bruchteil davon, er schließt alles nicht ein, was mit Liebe zu tun hat.
Dieses Gefühl des guten Vermissens, das ich meine, besteht jedoch zum größten Teil aus Liebe. Deshalb sollten wir, nur mit unserer inneren Stimme für uns allein, einen Menschen, den wir gern bei uns haben würden aber nicht können, in Gedanken anrufen, jedoch nicht mit dem Satz: „Ich vermisse dich.“ Sondern mit dem Satz: „Ich liebe dich.“
Das Schöne ist, dass wir das, wenn es uns auf diese Weise zu privat ist, niemandem sagen müssen. Es gilt nur für uns und diesen Menschen. An Weihnachten. Aber auch an allen anderen Tagen.