„Hanau war kein Einzelfall“Tausende trauern um Anschlagsopfer – Aufklärung gefordert
Lesezeit 4 Minuten
Hanau – Am Jahrestag des Anschlags von Hanau mit neun Toten will Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am (heutigen) Freitag in der Stadt den Angehörigen sein Mitgefühl aussprechen und ein Zeichen gegen Rassismus und Rechtsextremismus setzen. Zusammen mit Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU), dem Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) sowie Überlebenden und Hinterbliebenen nimmt Steinmeier an einer Gedenkveranstaltung Hanau teil.
Bereits am Donnerstagabend hatten knapp 3000 Menschen mit einer Demonstration durch die Frankfurter Innenstadt an die Opfer des Anschlags erinnert. In Sprechchören riefen Demonstranten immer wieder „Hanau war kein Einzelfall“.
Der 43-jährige Deutsche Tobias R. hatte am Abend des 19. Februar 2020 neun Menschen mit ausländischen Wurzeln an mehreren Orten in der Stadt im Rhein-Main-Gebiet erschossen, bevor er mutmaßlich seine Mutter und schließlich sich selbst tötete.
Zuvor hatte er Pamphlete und Videos mit Verschwörungstheorien und rassistischen Ansichten im Internet veröffentlicht. Die Tat hatte Entsetzen in ganz Deutschland ausgelöst. Zahlreiche Organisationen und Personen aus Politik, Kultur und öffentlichem Leben hatten den Hinterbliebenen ihr Mitgefühl bekundet und ein konsequentes Handeln gegen Rechts gefordert.
Hanau: Familien der Opfer senden Botschaften via Video
Bei der Gedenkveranstaltung sind neben einem kurzen Film, der sich den Ereignissen des 19. Februar 2020 widmet, auch persönliche Videoansprachen der Opferfamilien geplant. Symbolisch und in Erinnerung an jedes der neun Opfer werde eine frei stehende und beleuchtete Namenssäule auf der Bühne stehen, wie Kaminsky und Bouffier angekündigt hatten.
Zum Ende der Gedenkfeier sollen um 19.02 Uhr alle Kirchenglocken in der Stadt und im Hanauer Umland läuten. Auch zahlreiche weitere Aktionen und Demonstrationen sind geplant, darunter eine Kranzniederlegung und ein „Antifaschistischer Stadtrundgang“ des Deutschen Gewerkschaftsbundes Südosthessen, mehrere Mahnwachen und Friedensgebete in Hanauer Kirchen.
Für die beiden Amtssitze des Bundespräsidenten - Schloss Bellevue in Berlin und die Villa Hammerschmidt in Bonn - wurde für diesen Freitag Trauerbeflaggung angeordnet. Im Gedenken an die bei dem Anschlag Verstorbenen sollen die Flaggen auf halbmast gesetzt werden. Nach Angaben des Bundespräsidialamts hat Steinmeier zudem an die Familien der Opfer Anfang dieser Woche persönliche Briefe geschrieben.
Ein Land trauert
Der Bundespräsident war unmittelbar nach dem Anschlag nach Hanau gekommen, hatte sich dort mit den Angehörigen der Opfer getroffen und am Abend auf dem Marktplatz zu den Bürgern der Stadt gesprochen. Bei der zentralen Trauerfeier am 4. März vergangenen Jahres hielt er die Trauerrede. Für den 23. September hatte Steinmeier alle Angehörigen der Opfer ins Schloss Bellevue eingeladen.
Er traf sich dabei mit jeder Familie zu einem persönlichen Gespräch. Auch Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) hat für alle öffentlichen Gebäude und Dienststellen des Landes für den Freitag eine landesweite Trauerbeflaggung angeordnet.
Außenminister Heiko Maas rief zu einem verstärkten Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus auf und griff die AfD scharf an. „Lassen wir die rassistische Hetze nicht unwidersprochen in der Öffentlichkeit und in unseren Parlamenten“, sagte der SPD-Politiker der Deutschen Presse-Agentur. „Die AfD als eine geistige Brandstifterin ist längst ein Fall für den Verfassungsschutz, und gleichzeitig müssen wir alles tun, um Rechtspopulisten politisch zu bekämpfen.“
„Warum schrillen bei uns nicht alle Alarmglocken?“
Niemand könne sagen, man habe Hanau nicht kommen sehen, sagte Maas. Seit Jahren würden die Zahlen des Verfassungsschutzes für sich sprechen. Über 33.000 Rechtsextreme lebten in Deutschland, 13.000 davon seien gewaltbereit, Tendenz steigend. „Warum schrillen bei uns nicht alle Alarmglocken?“, fragte der Außenminister.Grünen-Chef Robert Habeck forderte weiterreichende Konsequenzen aus dem Anschlag.
„Politisch muss mehr geschehen, als es bisher der Fall ist“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. „Die Bundesregierung ist in der Verantwortung, ihre Maßnahmen gegen Rassismus rasch umzusetzen.“ Das Kabinett hatte im Dezember einen 89-Punkte-Plan zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus verabschiedet.
Habeck forderte Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften mit Fokus auf rechtsextreme Straftaten und eine „Task Force Rechtsextremismus“ als Anlaufstelle für von rechter Gewalt bedrohte Menschen.
Lückenlose Aufklärung soll Frieden bringen
Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, forderte eine stärkere Betonung darauf, dass in Hanau Landsleute angegriffen worden seien. „Das waren Deutsche. Das waren unsere Landsleute, die angegriffen wurden“, sagte Mayzek der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ (Freitag).
Er verlangte zugleich eine lückenlose Aufklärung des Terroranschlags. Die Gefahr rassistischer Angriffe sei nach wie vor groß. Punktuell würden Schutzmaßnahmen erhöht, aber das sei nicht ausreichend. „Wir brauchen ein noch klareres Bewusstsein in den Innenministerien, dass rechtsextreme Anschläge, zum Beispiel auf Muslime, keine abstrakte Gefahr sind, sondern eine konkrete.“ (dpa)