Kölner Obdachlose im Lockdown„Kaum Möglichkeiten auf Toilette zu gehen“
- Christina Bacher ist Chefredakteurin der Straßenzeitung „DRAUSSENSEITER“.
- Mithilfe ihrer ehrenamtlichen Redaktion und Fotografen hat sie jetzt ein Buch über Obdachlosigkeit in Köln während der Corona-Zeit herausgegeben.
- „Die Letzten hier. Köln im sozialen Lockdown“ ist ein Plädoyer für Toleranz und Solidarität – wir haben mit ihr im Interview gesprochen.
Köln – Wenn Sie ans Thema Obdachlosigkeit in Köln denken: Was hat während der Corona-Krise bislang gut funktioniert?
Einiges! Es hat sich gezeigt, dass die Vielfalt der Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe in dieser Stadt viel auffangen kann, wenn man zusammenhält. Neben den großen Trägern haben auch das Gulliver, die Oase, Emmaus oder der Vringstreff Hand in Hand gearbeitet, um das Schlimmste zu vermeiden. Nach der ersten Schockstarre Ende März 2020 hat die Zusammenarbeit der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, der Hauptamtlichen und der vielen Ehrenamtlichen im Wesentlichen gut funktioniert. Dennoch: Es gab zeitweise für die Leute auf der Straße kaum noch Möglichkeiten, zu duschen oder auf Toilette zu gehen. Die Stadt Köln und viele private Initiativen – wie die Dr. Deubner Stiftung oder das Kölner Straßennetz – haben dann mit der Verteilung von Care-Paketen und Einkaufsgutscheinen gute Hilfe geleistet.
„Viele Kölner waren solidarisch“
Welche Beispiele fallen Ihnen noch ein?
Das „Housing-First“-Projekt des Vringstreffs zum Beispiel ist – unter erschwerten Corona-Bedingungen – super angelaufen. Der Verein hat Wohnungen gekauft, in die inzwischen Obdachlose eingezogen sind. Die Organisation Helping Hands hat völlig unbürokratisch aus Spendengeldern ein Hostel in der Nähe des Hauptbahnhofs gemietet und dort den Winter über Menschen in Einzelzimmern untergebracht, die sonst dem Virus schutzlos ausgeliefert worden wären (in diesem Winter gibt es das Angebot erneut, Anmerkung der Red.). Das Priesterseminar des Erzbistums hat spontan über mehrere Wochen einen Mittagstisch für Obdachlose angeboten – in schönem Ambiente.
Solidarität war am Anfang der Pandemie an jeder Ecke zu sehen. Wir sind für alte Nachbarn einkaufen gegangen, die Jüngeren waren für die Älteren da. Galt die Solidarität auch für den Umgang mit Obdachlosen?
Ja, zum Teil schon, es wurde zum Beispiel sehr viel gespendet. Ich denke, die Pandemie hat uns klar gemacht, dass keiner vor schwerer Krankheit und Tod gefeit ist. Dass wir unser Leben eben nicht immer in der Hand haben. Arbeitslosigkeit und Existenzangst kann jeden treffen – das haben viele erstmals hautnah erlebt. Studierende, Familien, Alleinerziehende und die ganze Kunst-, Veranstaltungs- und Gastroszene waren und sind besonders betroffen. Mit der Arbeitslosigkeit fängt häufig eine Abwärtsspirale an, die man schnell nicht mehr stoppen kann. Ich glaube, dass das Wissen um diese Prozesse nicht wenige von uns auch ein bisschen solidarischer gemacht haben mit denen, die eh nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen.
Der Versuch, Berührungsängste abzubauen
Auf der Straße leben ja auch viele Menschen, die früher ein bürgerliches Leben geführt haben. Das wollen viele Bürger nicht wirklich wahrhaben...
Die Kontrolle über sein eigenes Leben zu verlieren und auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, das ist immer ein großes Tabu. Manchmal hilft es bei dem Thema aber Berührungsängste abzubauen, wenn man miteinander ins Gespräch kommt. Mit der Arbeit am DRAUSSENSEITER verstehen wir uns seit 30 Jahren als eine Art Brückenbauer: Wir bemühen uns, dass sich die Bürger über die Situation von Armutsbetroffenen informieren, um die Gräben zwischen Arm und Reich ein bisschen zu schließen. Dafür organisieren wir zum Beispiel auch von Obdachlosen geführte soziale Stadtrundgänge, die den doppelten Stadtplan unserer Stadt offenlegen und die – sofern die Coronalage es erlaubt – im nächsten Jahr bei uns gebucht werden können.
Einer der Stadtführer war Egbert, ein Obdachloser aus den Niederlanden, der kürzlich verstorben ist und über den Sie in dem Buch einen Nachruf geschrieben haben …
Egbert ist ein gutes Beispiel: Er war erfolgreicher Unternehmer und Triathlet, bis er irgendwann den Sinn seiner Arbeit nicht mehr gesehen und alles zurückgelassen hat. Er ist mit dem Auto 80 000 Kilometer durch Europa gekreuzt, als das Auto kaputt war, ist er weiter gelaufen. In Köln hat er dann Platte gemacht. Bei vielen Anwohnern und Geschäftsleuten rund um den Rudolfplatz war er sehr beliebt, weil er immer nett war. Leider ist er immer wieder Opfer von Gewalt geworden. Einmal hat man ihm gegen den Kopf getreten, als er geschlafen hat. Das hat er mir kurz vor seinem Tod erzählt. Er war sehr betrübt darüber, dass ihm während der Pandemie nahezu alle sozialen Kontakte weggebrochen sind.
Gewalt gegen Obdachlose nimmt zu
Hat die Gewalt auf der Straße generell zugenommen?
In Köln beobachten wir das, und die Polizei hat – so meine telefonische Recherche – auch den Eindruck, dass die Gewalttaten gegen Obdachlose in der Pandemie stark zugenommen haben. Da muss man noch die offiziellen Zahlen abwarten, die ja immer erst am Ende eines Jahres veröffentlicht werden. Was wir sicher wissen, ist, dass viele Obdachlose, mit denen wir in Kontakt sind, in den letzten Monaten Gewalt erlebt haben, zusammengeschlagen oder ausgeraubt wurden.
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Auf der Straße leben auch viele Menschen, die kaum oder kein Deutsch können.
Bei denen, die unsere Sprache schlecht verstehen – darunter viele Rumänen oder auch Bulgaren, die im Zuge der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Deutschland gekommen und hier geblieben sind – war die Ohnmacht am Anfang der Pandemie besonders groß. Sie wussten zum Teil gar nicht, warum plötzlich keine Passanten mehr auf der Straße waren, warum manche Einrichtungen reduzierte Öffnungszeiten hatten und irgendwann alle Masken trugen. Aber auch da muss man sagen, dass die Streetworkerinnen und Kulturmittler ganze Arbeit geleistet haben – auch, was die Aufklärungsarbeit über die großangelegten Impfaktionen betrifft.
Wie kann man denn Obdachlosen helfen, wenn man sie auf der Straße antrifft?
Ich würde sagen, dass da dieselben Regeln gelten wie bei anderen Menschen. Wenn Jemand das Gespräch sucht oder einen Augenkontakt herstellt, kann man ja einfach mal fragen, was gebraucht wird und wie man helfen kann. Und wenn Jemand nicht ansprechbar und in Gefahr ist, muss man die Nothotline der Stadt anrufen. Wer in den nächsten Wochen einen Straßenzeitungsverkäufer sieht, kann ihm gerne ein aktuelles Heft oder Buch abkaufen, das es natürlich auch im Buchhandel gibt. Für die meisten bedeutet diese Tätigkeit an einem festen Verkaufsplatz eine notwendige Tagesstruktur und in der Vorweihnachtszeit ein willkommenes Zubrot.
Das Buch „Die Letzten hier? Köln im Sozialen Lockdown“ erscheint Ende November im Buchhandel und ist auch bei vielen Straßenzeitungsverkäufern erhältlich. ISBN 978-3-89126-267-2, Daedalus Verlag, 12 Euro.