Die Bagger stehen kurz vor ihren Häusern: Die Kompromiss-Vorschläge aus Berlin werden von den Betroffenen im Rheinischen Revier äußerst kontrovers diskutiert
Die Menschen in den Abbaugebieten Hambach und Garzweiler fragen sich, ob sie nun doch in ihren Dörfern bleiben können
Ortsbesuche in Kuckum, Keyenberg, Unterwestrich und Morschenich
Kerpen/Düren – Die übermüdeten Kohle-Kommissionäre im Berliner Wirtschaftsministerium haben ihre Laptops am frühen Samstagmorgen noch nicht zugeklappt, da beschäftigt die Menschen in den Dörfern, in denen die Braunkohlebagger kurz vor den Häusern stehen, nur eine Frage: Und was wird jetzt aus uns? Was soll werden aus Berverath, Kuckum, Keyenberg, aus Ober- und Unterwestrich, die alle zu Erkelenz gehören? Und aus den Kerpener Dörfern Manheim und Morschenich, wie soll es hier denn weitergehen?
Armin Laschet äußert sich sehr zurückhaltend. Im Bericht der Kohle-Kommission seien die Ortschaften nicht namentlich genannt worden, die unter Umständen erhalten bleiben könnten, sagt der Ministerpräsident am Samstagmittag vor der Presse in Köln. „Alle Orte, über die wir jetzt sprechen, befinden sich mitten im Umsiedlungsprozess. Es gibt Menschen, die sagen, wir wollen weg. Manche sind schon weg. Andere wollen lieber bleiben.“ Deshalb sei das „eine sehr schwierige Aufgabe“.
In Unterwestrich ist am Nachmittag das halbe Dorf versammelt. An der Haustür bei Familie Portz hängen Luftballons. Kindergeburtstag. Tom wird sieben, feiert bei Oma Anneliese. Geburtstage in Unterwestrich muss man sich so vorstellen: Die Kaffeetafel ist groß wie zwei Tischtennisplatten, die Kuchenauswahl schlägt jede Konditorei, die Kinder tollen durchs Haus, es ist ein Kommen und Gehen, alle helfen mit.
Versuche, die Verwandtschaft auseinanderzuhalten oder auch nur die Gäste zu zählen, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt. „Das ist doch noch gar nichts.“ Maria Bähren (69), Eigentümerin der Kuckumer Mühle, muss lachen. „Da müssten Sie mal kommen, wenn hier Kirmes ist. Da reichen 100 Plätze nicht. Wir sind ein großer Familienclan.“ Für einen Moment sind die Rollen vertauscht. Vom Reporter wollen die Unterwestricher erst einmal wissen, was „der Laschet denn genau gesagt hat“. Über die Zukunft ihres Dorfes. Und schon geht die wilde Diskutiererei los. Ist das jetzt gut oder schlecht, wenn Rheinbraun bald deutlich weniger Kohle abbaggern wird?
„Wir haben die Mühle schon verkauft. Unser neues Haus ist fast fertig.“ Maria Bähren würde ihre Kuckumer Mühle sofort zurückkaufen, wenn es die Möglichkeit zum Bleiben gäbe. Sie arbeitet in einem Ausschuss der nicht von Umsiedlung betroffenen Nachbardörfer mit. „Ich hatte in meinem ganzen Leben keine Nachbarn. Und immer viel Platz. Das kriegen wir doch nie mehr wieder. Wir sind drei Geschwister, die Mühle ist aufgeteilt. Wie ein Dreifamilienhaus.“
Gehen oder bleiben? Das sei eine schwierige Frage, findet Sabine Portz (44). Die Mutter des Geburtstagskindes Tom versucht, realistisch zu bleiben. Sicher. Man habe ein schönes Haus, ein Grundstück mit unverbaubarem Blick, aber bald keine Nachbarschaft mehr. Das Dorf werde zum Jahresende zur Hälfte umgesiedelt sein, Keyenberg zu drei Viertel. „Die Entscheidung wird uns mehr oder weniger abgenommen. Wir wollen hier doch nicht als Einsiedler leben.“
Landwirtin Tina de Jong (36) hat schon eine Umsiedlung hinter sich. Vor 20 Jahren. Da war sie 16 Jahre alt. Ihr Elternhaus in Morschenich steht schon längst nicht mehr. „Wir sind da immer mal vorbeigefahren, aber als das Haus abgerissen wurde, habe ich trotzdem noch geweint. Wir können nie mehr an den Ort zurück, an dem ich geboren bin. Mich hat überrascht, dass mich das so trifft, nach so vielen Jahren. Das war wirklich schlimm.“ Jetzt wird sie ein zweites Mal gehen müssen. Aus ihrer Sicht sind Kuckum, Keyenberg und Unterwestrich nicht mehr zu retten. „Ich wäre froh, wenn wenigstens die Mühle stehen bliebe. Und Berverath. Dann hätte ich meinen Frieden.“
Oliver Kanneberg ist skeptisch. Der Kohlekompromiss sei das Todesurteil für die fünf Dörfer, die zu Erkelenz gehören. Davon ist er überzeugt. „Für mich ist das eine Nullnummer.“ Der 53-Jährige steht vor seinem Haus in Kuckum, das Protestschild im Fenster, die Fahne der Umweltaktivisten am Carport flattert im Wind. „Wir haben verkauft, würden aber lieber hierbleiben.“
Das Ausstiegsdatum 2038 sei Rückenwind für RWE, der Druck auf den Energiekonzern viel zu gering. „Wir haben mit 2032 oder 2033 als Enddatum gerechnet.“ Die „bergbauliche Inanspruchnahme“, also der Beginn des Kohleabbaus in Kuckum, sei auf 2026 festgelegt. „Da haben die mindestens zehn Jahre Zeit für den Abbau und werden richtig Gas geben.“ Ein früherer Termin hätte RWE vielleicht dazu bewogen, in Kuckum gar nicht mehr mit dem Abbau zu beginnen, sondern anderswo tiefer zu graben.
Dörfer um den Tagebau Hambach waren schon immer gespalten
Kanneberg fürchtet, dass beim Zurückfahren der Gigawatt-Leistungen im Rheinischen Revier der Verzicht auf den Neubau des Kraftwerks Niederaußem eingerechnet wird. Es sollte nach RWE-Angaben das modernste der Welt werden, „mit Hochtechnologie für die Stromerzeugung von heute und morgen“. Wie entschlossen der Energiekonzern sei, mit dem Tagebau voranzuschreiten, habe man beim Abbruch der alten Autobahn gesehen. „Auf der neuen war der Asphalt noch nicht trocken, da haben sie die alte schon abgerissen. An einem Sonntagmorgen. Die wissen, wie man Fakten schafft.“ Kanneberg ist den Aktivisten im Hambacher Forst regelrecht dankbar. „Die haben dafür gesorgt, dass hier überhaupt noch einmal eine Diskussion aufgekommen ist.“
Die Dörfer seien immer schon gespalten gewesen. „Nur dass diejenigen, die bleiben wollen, nie einen Ansprechpartner hatten. Dem Bürgermeister ist das alles wurscht hier. Der braucht sein Neubau- und sein Gewerbegebiet in Erkelenz.“ Die Umsiedlungsgegner hätten erst durch das Klimacamp eine Stimme bekommen. Vor einem halben Jahr sei es gelungen, die Initiative „Alle Dörfer bleiben“ zu gründen. „Dazu mussten erst Aktivisten aus Leipzig und Köln kommen, um uns hier zu zeigen, wie man so etwas macht. Da haben wir richtig was gelernt.“
Kanneberg ist begeistert. „Vor zwei Wochen waren wir schon 35. Es könnten deutlich mehr sein, aber da müsste man ja offen gegenüber den Fremden sein. Die sehen ja anders aus als wir.“ Wenn es noch eine Chance gebe, in Kuckum zu bleiben, „würde ich das sofort tun“, sagt Kanneberg. „Dieses kleine Gallien hier als ein Zeichen für den Klimaschutz, da wäre ich sofort dabei.“
Nieselregen. Der Wind pfeift über die Felder vor Keyenberg. Winand Schüller (80) ist mal wieder mit seinem Fahrrad unterwegs, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, Arbeitshandschuhe von RWE schützen ihn gegen die Kälte. Der Landwirt ist hier geboren. „Ich habe mein Lebtag nie etwas anderes gemacht, nie an einem anderen Ort gewohnt.“ Jetzt sei Keyenberg am Ende. „Wir hatten mal 800 Einwohner. Das Ganze hier macht mich kaputt“, sagt er. „Und wenn ich sehe, wie die Stadt Erkelenz auf unsere Kosten auch noch Reibach macht, läuft mir die Galle über.“
Die Enkelin sei auch schon nach Neu-Keyenberg gezogen. Er habe lange gebraucht, sich regelrecht überwinden müssen, bevor er sie das erste Mal besuchen konnte. „Oppa, wat sachste von dem Haus?“, habe sie ihn voller Stolz gefragt. Winand Schüller hat nicht geantwortet. „Der Garten, schön eingezäunt, wie im Gehege. Da würde ich nie hin“, sagt er mit nachdenklicher Miene. „Da fühle ich mich eingesperrt.“Er hoffe jetzt sehr, dass der Kohlekompromiss wenigstens dazu führt, „dass ich hierbleiben kann, bis ich gestorben bin“. Winand Schüller hält kurz inne. Dann, ja dann „würde ich vorher einen ausgeben“.