Potenzielle Rücksiedler müssen sich auf ein kompliziertes Verfahren mit vielen Hindernissen einstellen. Lennart Bongart (25) und Calvin Köcher (26) wagen es dennoch.
Rückkehr ins gerettete BraunkohledorfIhre Heimat sollte abgebaggert werden – jetzt wollen zwei junge Männer zurückkehren
Die beiden jungen Männer hätten nichts dagegen, eines Tages als Pioniere in die Jahrhunderte alte Geschichte ihres Heimatdorfes einzugehen. Doch vorerst sitzen Lennart Bongart (25) und Calvin Köcher (26) im Bus-Häuschen im Ortskern von Alt-Morschenich und träumen von einem Rückkauf der Häuser, in denen sie aufgewachsen sind.
Die Scheiben der Haltestelle „Morschenich-Kirche“ sind bis auf eine schon lange von Randalierern zerstört und nie ersetzt worden. Wozu auch, in einem Dorf, das mitten im Braunkohletagebau Hambach zum Sterben verurteilt schien.
Es zieht wie Hechtsuppe. Der Blick fällt auf die verkohlten Reste der entweihten Lambertus-Kirche, deren Turm im vergangenen April einer Feuersbrunst zum Opfer fiel. Dach und Glockenturm sind eingestürzt, das Kirchenschiff und die Sakristei völlig zerstört.
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Dieser Anblick ist für die Freunde, die sich seit frühesten Kindertagen kennen, für die Alt-Morschenich ihre Heimat war, die von klein auf in allen Vereinen und in der Freiwilligen Feuerwehr aktiv waren, nur schwer zu ertragen.
Das alte Feuerwehrgerätehaus liegt nur ein paar hundert Meter von der Kirche entfernt, so wie fast alles in einem Dorf, das im Grunde nur aus drei großen Straßen besteht, der L 257, die sich durch den Ort schlängelt, die Ober- und die Unterstraße. Beide waren in der Nacht mit der Löschgruppe Morschenich im Einsatz und haben alles getan, das Feuer einzudämmen. „Das hätte nicht auch noch sein müssen“, sagt Bongart. „Die Brandursache ist bis heute nicht geklärt.“
Umsiedlung: „Das Wissen, wir müssen hier irgendwann weg, war immer da“
Als er noch ein Kind war, fügt er hinzu, „habe ich gar nicht verstanden, dass das Dorf eines Tages abgebaggert werden wird. Wir sind hier glücklich aufgewachsen, hatten ganz viel Platz zum Spielen. Hier kannte jeder jeden. Irgendwann habe ich zum ersten Mal Notiz davon genommen, dass wir hier alle wegmüssen“, sagt Bongart. Zwei Jahre später war es dann so weit. „Erst viel später ist mir klar geworden: Hier kannst Du vielleicht mal mit Deinen Kindern oder Enkelkindern mit einem Segelboot rumfahren und erzählen, dass Du hier geboren und aufgewachsen bist. Aber das wird Dir keiner glauben. Die Straßen, die Nachbarhäuser, wo man als Kind geklingelt hat, alles weg. Es wird keinen Ort mehr geben, an den Du zurückkehren kannst.“
Beide Familien, die seit Generationen hier zuhause waren, haben Alt-Morschenich vor fünf Jahren verlassen.
Sein Freund Calvin Köcher ist abgeklärter mit der Situation umgegangen. „Das Wissen, wir müssen hier irgendwann weg, war immer da. Deshalb war die Umsiedlung für keinen von uns eine Überraschung“, erinnert er sich. „Die ältere Generation hat sich damit schwerer getan als wir. Für uns ist Heimat wohl mehr die Menschen als der Ort. Und die sind ja mitgezogen. Aus unserer Sicht war das zwar schade, aber machbar.“
Wie selbstverständlich es für alle Dorfbewohner war, dass gegen die Bagger jeder Widerstand gegen die Umsiedlung zwecklos ist, verrät ein Blick auf die Homepage der Gemeinde Merzenich. Unter dem Stichwort „Umsiedlung Morschenich“ findet sich bis heute der Eintrag: „Beginn der gemeinsamen Umsiedlung: 2015. Bergbauliche Inanspruchnahme: voraussichtlich 2024“.
Erste Reaktion: „Wir mussten weg. Jetzt muss auch das Dorf verschwinden“
Für ihn sei die Nachricht, dass das Dorf doch erhalten bleibt, der größere Schock gewesen, sagt Köcher. „Die Klima-Aktivisten hatten ja ewig gefordert, dass der Hambacher Forst und unser Dorf erhalten bleiben. Wir haben das registriert, hatten aber keinerlei Kontakt. Das muss man ehrlich sagen. Hier hat keiner damit gerechnet, dass auf die Kohle im Boden verzichtet wird und wir zur Drehscheibe der Energiewende werden.“
Im ersten Moment hat Köcher wie die meisten der ehemaligen Dorfbewohner reagiert. „Wir mussten weg. Jetzt muss auch das Dorf verschwinden. Die Umsiedlung abschließen, den Ort plattmachen, Acker drauf und fertig. Ich wollte einen emotionalen Abschluss finden.“
Doch die Zweifel seien recht schnell gekommen. Und ein gewisses Maß an Unsicherheit. Was wird aus unseren Häusern? Wie wird es mit dem Ort weitergehen? Was hat die Politik damit vor? Welche Kaufinteressenten gibt es? Und welche Konzepte? „Zwischen all diesen Fragen stecken unsere Erinnerungen und unsere Verbundenheit zu Morschenich.“
Und so haben die Freunde gemeinsam entschieden: Wir wollen zurück in unser Dorf. Möglichst in unsere alten Häuser. Lennart Bongart, angehender Meister für Wasser- und Gasnetze bei einem Netz- und Messstellenbetreiber, und Calvin Köcher, Informatiker bei einem großen Übertragungsnetzbetreiber und dort verantwortlich für die Leitsysteme, sind die Ersten, die das so klar kommunizieren.
Köcher und Bongart beschäftigen sich beruflich beide mit der Energiewende
„Als unser Bürgermeister davon gesprochen hat, dass das hier ein Ort der Zukunft werden soll, sind wir hellhörig geworden und haben ihn angeschrieben“, erzählt Köcher. „Wir haben beide mit der Energiewende zu tun und sehen uns als Menschen der Zukunft.“ Bongart sieht das ähnlich. Auch sein Arbeitgeber gehe bei dem Thema voran. „Für mich ist der Gedanke sehr reizvoll, dafür zu sorgen, dass unser Dorf, dieses kleine Stückchen Erde, ein bisschen grüner wird.“
Für ihre Pläne werden sie viel Zeit und Energie aufwenden müssen. Doch das kann die Freunde nicht abschrecken. Bis das Dorf, in dessen 214 Haushalten vor der Umsiedlung rund 493 Menschen lebten, ein neues soziales Gefüge entwickelt, werden Jahre vergehen. Da sind sie sich sicher. „Natürlich sprechen wir hier viel darüber. Bei der Freiwilligen Feuerwehr, die jetzt im neuen Dorf verankert ist. Wir sind eine eingeschworene Truppe, kennen uns alle seit vielen Jahren. Jeder von uns weiß, wie der andere tickt. Davon abgetan ist keiner, hierher zurückzukehren. Doch der Großteil hat schon in Morschenich neu gebaut und kann sich deshalb nicht mehr vorstellen, eine solche Doppelbelastung zu stemmen.“
Bürgermeister von Merzenich beeindruckt von dem Engagement der zwei junge Männer
Merzenichs Bürgermeister Georg Gelhausen (CDU) reagiert prompt auf die Anfrage. „Er hat uns eingeladen und wir haben darüber gesprochen, wie er das Ganze sieht“, so Bongart. Das ist zwei Monate her. Die unkonventionelle Art von Bongart und Köcher hat Gelhausen dermaßen beeindruckt, dass er ihre Initiative sogar bei der Feierstunde zur Unterzeichnung der Rückkauf-Vereinbarung für Morschenich mit RWE und der Landesregierung im Dezember zum Thema macht.
„In dieser Woche waren zwei Kinder von Umsiedlern bei mir, die mir sagten, dass sie sehr interessiert sind, den Ort der Zukunft mitzugestalten“, sagt Gelhausen. „Wir haben das Kapitel, dass wir unsere Heimat verloren haben, endlich abgeschlossen und gucken gemeinsam nach vorn. Der Schmerz überwiegt nicht mehr, sondern es gibt die Lust, hier etwas Besonderes zu schaffen.“
Etwas Besonderes schaffen. Dagegen haben Bongart und Köcher nichts einzuwenden. „Hier muss eine Menge passieren“, sagt Lennart Bongart. Das Kanalnetz sei völlig veraltet. Ein Gasnetz gebe es gar nicht. „Hier hat man mit Kohlestrom von RWE geheizt, weil der so billig war. Oder mit Öl. Man könnte hier ein Wasserstoffnetz aufbauen, weil hier noch gar kein Gas liegt.“
Der Rückkauf des Dorfs kostete 36,8 Millionen Euro
Es gibt keinen Bäcker, kein Metzger. Nichts. Daran, dass man zum Einkaufen weite Wege auf sich nehmen muss, hätten sich die Morschenicher seit vielen Jahren gewöhnt. „Das war schon so, als ich noch Kind war. Hier gab es nicht einmal eine Grundschule. Ich musste immer nach Golzheim fahren und bin später in Niederzier zur Gesamtschule gegangen", sagt Bongart.
36,8 Millionen Euro hat Merzenich für den Rückkauf von Alt-Morschenich an RWE überwiesen und dafür ein Drittel seiner Gemeindefläche zurückerhalten. Die Summe entspricht ungefähr dem Gemeindehaushalt eines Jahres und wird aus den Strukturfördermitteln des Bundes bezahlt, aus denen NRW rund 14,8 Milliarden Euro erhalten wird.
„Wem bietet sich schon eine solche Chance?“, sagt der Bürgermeister. In der ersten Euphorie hat Gelhausen den Rückkauf im Überschwang sogar mit der deutschen Wiedervereinigung verglichen. „Das schien mir damals auch unvorstellbar.“
Der Rückkauf-Prozess steht der Stadt Erkelenz, auf deren Gebiet die fünf geretteten Dörfer Keyenberg, Kuckum, Berverath, Ober- und Unterwestrich liegen, noch bevor. Die Situation sei durchaus mit Merzenich vergleichbar, aber nicht identisch, so eine Stadtsprecherin auf Anfrage. Derzeit liefen Abstimmungsgespräche der Gemeinde mit dem Land und der RWE Power AG, um verschiedene in der neuen Leitentscheidung zum Kohleausstieg benannten Punkte für das Erkelenzer Stadtgebiet zu konkretisieren.
Alt-Morschenich heißt künftig Bürgewald
14,8 Milliarden Strukturförderhilfen, um die Folgen des Kohleausstiegs abzufedern, 36,8 Millionen Euro Rückkaufsumme für ein Geisterdorf, in das Jahrzehnte lang nur noch das Nötigste investiert wurde, weil es dem Untergang geweiht schien.
Es sind genau solche Zahlen, die Calvin Köcher und Lennart Bongart auch nachdenklich stimmen. Zwar wird den ehemaligen Bewohnern aller geretteten Dörfer und deren Kindern in der neuen Leitentscheidung der Landesregierung zum Kohleausstieg 2030 eine zeitlich befristete Vorkaufsoption eingeräumt, doch die bange Frage bleibt: Werden sie den Rückkauf ihrer Häuser überhaupt finanzieren können? Denn eins steht fest: Die Anforderungen an Um- und Neubauten sind hoch. Erwartet werde eine klimaschützende, flächensparende und ressourcenschonende Bauweise, „die hohe Anforderungen an die Qualität der Planung“ stellt, heißt es wörtlich.
Das sei bei den meisten Häusern nur mit hohem Aufwand zu stemmen, glaubt Köcher und könnte den Traum von der Rückkehr nach Alt-Morschenich, das ab Sommer nach der historischen Bezeichnung für den Hambacher Forst den Namen Bürgewald tragen wird, schnell platzen lassen.
Unstrittig sei, dass Bürgewald als „Ort der Zukunft“ möglichst ein klimaneutrales Dorf werden müsse. „Es ist schon davon die Rede, dass wir in Zukunft komplett energieautark leben werden“, sagt Köcher. „Aber das Leben muss für den normalen Bürger bezahlbar bleiben. Bürgewald darf kein Ort werden, den wir uns nicht mehr leisten können.“
Um genau diese Themen geht es am heutigen Samstag in einer Informationsveranstaltung, zu der alle Umsiedler und deren Kinder eingeladen sind, die mit dem Gedanken an eine Rückkehr spielen. Das Einladungsschreiben stimmt Calvin Köcher doch sehr nachdenklich. Von einer Rückkauf-Möglichkeit für alle Umsiedler könne keine Rede sein.
Der größte Haken sein, dass ehemalige Eigentümer zwar ihre Immobilie, aber nicht das Grundstück erwerben könnten, weil die Gemeinde entschieden hat, alleiniger Eigentümer zu werden und das Erbpachtmodell anzuwenden. Außerdem seien Umsiedler, deren Haus schon abgerissen wurde oder nicht mehr saniert werden kann, „komplett von dem Prozess ausgeschlossen. Das ist alles sehr enttäuschend.“