Köln – Die derzeitige Pandemie, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn Anfang November, sei eine „Pandemie der Ungeimpften“. Denselben Wortlaut nutzte auch der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst vorige Woche, als er für eine 2G-Regelung appellierte. Politiker und Mediziner diskutieren heftig über diesen Begriff: Sind es tatsächlich zum überwiegenden Teil Menschen ohne Impfschutz, die die Intensivstationen füllen und die Fallzahlen hochtreiben? Wir haben bei Kliniken in der Region nachgefragt.
Impfdurchbrüche treffen vor allem Ältere
Einen ersten Überblick lässt der Blick auf folgende Zahlen zu: Gesamtinzidenz, Inzidenz der Geimpften, Inzidenz der Ungeimpften. Einige Bundesländer geben mittlerweile drei Sieben-Tage-Inzidenzen heraus. In Sachsen klafft eine besonders deutliche Lücke. Am Dienstag lag dort die Inzidenz der Ungeimpften bei 1.823, die der Geimpften dagegen bei nur 64.
Nordrhein-Westfalen trennt die Gesamtinzidenz allerdings nicht zusätzlich in Geimpfte und Ungeimpfte, Köln ebenfalls nicht: Es gebe noch keine wissenschaftliche Empfehlung dazu, wie diese Zahlen korrekt berechnet werden können, da sich die Gesamtzahl der Geimpften konstant verändere, erklärt ein Sprecher der Stadt Köln.
28 Prozent der Covid-Patienten auf Intensiv geimpft
Was Zahlen des Robert-Koch-Instituts jedoch deutlich zeigen: Von Impfdurchbrüchen sind am meisten ältere Menschen betroffen. Bei den über 60-Jährigen fielen rund 61 Prozent der Neuinfektionen ab Mitte Oktober auf Geimpfte zurück, bei den 18 bis 59-Jährigen waren es 41,6 Prozent. Zieht man den Anteil der Geimpften in den Krankenhäusern und Intensivstationen hinzu, dann sinken diese Zahlen: Auf den Intensivstationen sind 28 Prozent der Covid-Patienten ab 12 Jahren geimpft.
Ein ähnliches Bild geben die Kliniken aus der Region ab: Ein Großteil der Patienten ist meist ungeimpft, doch auch die Zahl der Geimpften steigt in den Kliniken. Auf der Intensivstationen, schreibt die Düsseldorfer Uniklinik, seien vollständig geimpfte Covid-Patienten jedoch weiterhin selten. Im Schnitt seien zehn Prozent der Covid-Patienten auf Intensiv geimpft. „Wir haben vier Patienten auf Intensiv, da liegt das Verhältnis von Geimpften bei 50/50“, sagt dagegen eine Sprecherin des Klinikums Leverkusen. „Die geimpften Patienten sind Menschen über 60, die früh geimpft wurden.“
Schwerwiegende Impfdurchbrüche, schrieb auch ein Sprecher der Uniklinik Aachen, beobachten die Mediziner meist bei Patienten über 70. „Geimpfte Patienten auf der Intensivstation sind oftmals durch eine andere Erkrankung, etwa eine Transplantation, immungeschwächt.“ Bei den ungeimpften Patienten liegt der Altersdurchschnitt in der Uniklinik Aachen bei 51 Prozent, die geimpften Patienten seien im Schnitt 74 Jahre alt.
Impfung schützt trotzdem vor schweren Verläufen
Was sagt das also über die Effektivität des Impfstoffes aus, wenn ein Viertel der Intensivpatienten laut RKI-Zahlen doch eigentlich geimpft ist? Grundsätzlich: Dass der Impfstoff wirkt. Auch bei Älteren, wenn auch nicht ganz so gut. Denn in der Altersgruppe der über 60-Jährigen liegt die Impfquote mit 85 Prozent deutlich über dem Durchschnitt. So gesehen machen die 15 Prozent Ungeimpften in dieser Altersgruppe rund 40 Prozent der Neuinfektionen aus.
Ein häufig genutzter Vergleich dafür sind die Sicherheitsgurte im Auto: Natürlich kann man sich auch mit Sicherheitsgurt bei einem Autounfall verletzen oder sterben. Das Risiko für eine Verletzung, beziehungsweise für eine schwere oder tödliche Verletzung, ist mit Sicherheitsgurt deutlich geringer. Da sich die meisten Autofahrer jedoch anschnallen, ist die Quote der Unfallopfer mit Sicherheitsgurt trotzdem hoch. Übertragen auf die Impfungen heißt das: Wenn sich immer mehr Menschen impfen lassen und der Anteil der Geimpften an der Gesamtbevölkerung immer höher wird, dann wird auch die Zahl der Geimpften steigen, die im Krankenhaus landen. Dennoch wird auf der anderen Seite eine ungleich höhere Zahl derer stehen, die geimpft ist und eben nicht schwer erkrankt.
Keine „Pandemie der Ungeimpften“
Es gebe mehrere Ursachen dafür, dass die Pandemie noch immer andauert, sagt Gerd Fätkenheuer, Leiter der Infektiologie der Kölner Uniklinik. Er sehe es wie Christian Drosten, der auch in der Delta-Variante einen Grund für die Schwere der vierten Welle sieht. Ein weiterer Grund sei der Unwille mancher Menschen, sich impfen zu lassen. Aber: „Ich würde nicht den Begriff ‚Pandemie der Ungeimpften‘ verwenden“, so Fätkenheuer.
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Ähnlich sieht es Gernot Marx, Professor und Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin: „Aus Sicht der DIVI ist es keine Pandemie der Ungeimpften, sondern eine Pandemie, die die ganze Bevölkerung und das ganze Land betrifft“, so Marx. Trotzdem müsse man die Ungeimpften besonders schützen: Auf den Intensivstationen zeige sich, wie lebensbedrohlich Covid-19 ist. „Deshalb gilt es, das derzeitige Infektionsgeschehen sofort einzudämmen.“
Ein wesentlicher Grund, wieso gerade ältere Menschen wieder vermehrt erkranken, sei der nachlassende Impfschutz, so Fätkenheuer. Als Konsequenz rät er älteren Menschen zu einer Booster-Impfung. Bis zum Booster-Termin sollten sie größere Zusammenkünfte meiden und sich mit einer Maske schützen. Dennoch schütze auch die Spritze aus dem Frühjahr oder Sommer noch: „Wenn man den Impfstatus in verschiedenen Altersgruppen vergleicht, dann sieht man: Das Risiko, schwer zu erkranken oder zu sterben, ist bei Geimpften deutlich geringer", sagt Fätkenheuer.