Das Warten auf das WasserEine Chronik der Flutnacht im Kreis Euskirchen
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Kreis Euskirchen – Die Katastrophe beginnt mit der Warnung des Deutschen Wetterdienstes (DWD). Er warnt zwei Tage vor dem Mittwoch, der den Kreis Euskirchen nachhaltig verändern wird, vor Starkregen. Bis zu 200 Liter pro Quadratmeter sind angekündigt. Eine Zahl, die zu abstrakt ist, um sich deren Ausmaße vorstellen zu können.
Am Mittwochmorgen konkretisiert der DWD und verschickt um 9.40 Uhr eine „extreme Unwetterwarnung“. Bei Niederschlagsmengen zwischen 80 und 180 Litern pro Quadratmeter seien Hochwasser an Bächen und kleineren Flüssen sowie Überflutungen von Straßen möglich. Erdrutsche könnten auftreten. Möglich. Könnte. So recht vorstellen, was das bedeutet, können sich das zu diesem Zeitpunkt wohl nur die wenigsten.
Lage spitzt sich schnell zu
Fünf Minuten vor der Warnung alarmiert die Leitstelle das HFS-System, eine im Kreis stationierte Komponente des Katastrophenschutzes des Landes NRW. Der Auftrag: Wasser aus dem Mühlensee in den Bleibach zu pumpen, um den See vor dem Überlaufen zu schützen. Zu frisch sind die Erinnerungen an das Hochwasser von 2016 in Kommern. Es regnet. Aber nicht so stark, dass man sich größere Sorgen macht.
Keine zwei Stunden später sieht das schon anders aus. In Euenheim droht der Veybach an der Herrenhausstraße über die Ufer zu treten. Ein paar wenige Sandsäcke sind bereits aufeinandergestapelt. Ähnliches Bild, gleiches Vorgehen nur wenige Kilometer weiter. An der Rheinstraße in Euskirchen verbarrikadiert die Feuerwehr einige Türen mit Sandsäcken. „Vorsichtshalber“, heißt es. In Nettersheim laufen da schon die ersten Keller voll.
Zeitgleich füllt das THW in Schleiden zahlreiche Sandsäcke. Ein Großteil ging schon in der Nacht nach Stolberg bei Aachen. Dort ist die Flut bereits angekommen, als viele im Kreis Euskirchen noch von einem starken Sommerregen ausgehen. In einem Sommer, der in den vorangegangenen Wochen gar kein Sommer war. Entsprechend sind die Pegel vieler Flüsse und Bäche vor dem Starkregen am 14. Juli recht hoch, die Felder gesättigt.
Feuerwehr muss kapitulieren
Der Regen wird am Nachmittag stärker, die Pegel steigen entsprechend schnell an. Im gleichen Tempo nehmen die Alarmierungen der Einsatzkräfte zu. Eine Situation, die zu diesem Zeitpunkt aus Feuerwehrsicht aber als normale Starkregenlage durchgeht. Um 12.45 Uhr werden im Stadtgebiet Schleiden erste Straßen überflutet. Etwa eine Stunde später läuft das Lager des dm-Verteilerzentrums in Weilerswist voll. Die ersten Voll-Alarme für die Feuerwehren werden ausgelöst, die Koordinierungsstellen sind bis 18 Uhr alle besetzt. Da die Notrufe minütlich mehr werden, alarmiert der Kreis weitere Einsatzkräfte für die Leitstelle.
Gegen 17 Uhr bereitet sich Gilsdorf auf das nächste Hochwasser nach 2007 vor. Wieder fährt der Radlader mit Sandsäcken durch die Straßen. Gemeinsam – diese Strategie wird sich in den Wochen nach dem Hochwasser etablieren – hilft man sich, packt mit an. Niemand kämpft schon zu diesem Zeitpunkt allein gegen die braunen Wassermassen.
Parallel spitzt sich die Lage in Schleiden zu. Der Pegel der Olef steigt und steigt. Zwar wird er erst gegen 23 Uhr mit etwa 4,80 Metern seinen Höchststand erreichen, doch auch schon in den Stunden davor reichen die Wassermassen für Überflutungen aus. Um 22 Uhr müssen die Einsatzkräfte Oberhausen aufgeben.
Zu diesem Zeitpunkt haben die Warn-Apps Katwarn und Nina Alarm geschlagen. „Durch die Überflutungen besteht in Teilen des Kreises Euskirchen akute Lebensgefahr. Begeben Sie sich in höhere Etagen Ihrer Häuser“, heißt es in den Text-Nachrichten um 21.18 Uhr. Nach Angaben von Martin Fehrmann, Leiter der Kreis-Gefahrenabwehr, haben etwa 200.000 Nutzer die Push-up-Nachrichten aus dem Kreis Euskirchen abonniert. Wie viele von ihnen aber im Kreis leben, sei nicht festzustellen, wird Fehrmann in einer Pressekonferenz neun Tage nach der Katastrophe sagen.
Steinbachtalsperre läuft über
In Schweinheim wird es gegen 18.30 Uhr dramatisch. Beim Versuch, einem Bewohner zu helfen, geraten Feuerwehrmänner selbst in Lebensgefahr. Sie können sich retten.
Dass im gleichen Moment feststeht, dass die Steinbachtalsperre überlaufen wird, wissen die wenigsten. Um 18.10 Uhr wird die Bezirksregierung informiert, dass der Damm mit hoher Wahrscheinlichkeit überflutet wird. Auch die Leitstelle wird in Kenntnis gesetzt. Um 20 Uhr passiert das Unvorstellbare: Kronenstau. Anschließend läuft die Talsperre bis 23 Uhr über. Bis zu 120 000 Liter Wasser pro Sekunde bahnen sich ihren Weg. Die 4800 Bewohner von Schweinheim, Palmersheim und Flamersheim werden ab etwa 21 Uhr evakuiert. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, weil der Damm zu brechen droht.
Erst fünf Tage später dürfen die Menschen zurück in ihre Häuser, von denen mehrere völlig zerstört sind. Was passiert wäre, wenn der Damm gebrochen wäre? Unvorstellbar! Auch für die Experten des Betreibers e-regio. Ein solches Szenario habe in keinem theoretischen Planspiel seit der Inbetriebnahme 1936 einen Platz gefunden, erklärt e-regio-Geschäftsführer Markus Böhm später.
In Kall richtet die Urft großen Schaden an, in Schwerfen und Sinzenich ist es der Rotbach. Bad Münstereifel, Iversheim, Stotzheim, Roitzheim, Vernich werden durch die Erft teilweise zerstört. Das Schleidener Tal wird von Olef und Urft heimgesucht. In Euskirchen sind es die Erft und der Veybach, die gnadenlos zuschlagen und nicht nur Straßenzüge unter Wasser setzen, sondern auch die Geschäfte an der Fußgängerzone.
8127 Notrufe registriert der Kreis nach eigenen Angaben zwischen 0 Uhr am 14. Juli und 23.59 Uhr in der Nacht zum 15. Juli. Im selben Zeitraum werden laut Kreis 2555 Einsätze „neu eröffnet“. Die tatsächliche Zahl der Einsätze dürfte bereits zu diesem Zeitpunkt deutlich höher liegen. Teilweise war die 112 überlastet, am 15. Juli fiel sie dann um 7.15 Uhr komplett aus.
Um 4.06 Uhr in der Nacht zum Donnerstag wird für den Kreis offiziell der Katastrophenfall ausgerufen. Dann beginnen das große Aufräumen, das Schadensichten und das Bangen. Der Damm der Steinbach droht zu brechen. Erst fünf Tage gibt die Bezirksregierung Entwarnung.