100 Kilometer zu Fuß rund um und quer durch Köln sollten es werden. Doch nach 65 Kilometern gingen die Kräfte aus.
„Megamarsch“Was Autorin Ulla Jürgensonn auf 65 Kilometern quer durch Köln erlebt
Jeder gesunde Mensch kann 100 Kilometer gehen. Das war mein Mantra in den vergangenen Wochen, wenn die Zweifel kamen, ob es wirklich eine gute Idee war, mich zum Megamarsch anzumelden. Jeder gesunde Mensch kann 100 Kilometer gehen. Das Mantra sollte mich auch durch die entscheidende Nacht bringen. Hat leider nicht so ganz geklappt. Und die Frage, ob ein geistig gesunder Mensch überhaupt auf die Idee kommt, in 24 Stunden so weit zu gehen, lasse ich mal offen.
Gute Vorbereitung ist alles. Mit jedem Ausrüstungsteil, das ich bereitlege, lässt die Nervosität nach. Dafür beschleicht mich die Sorge, dass der Rucksack zu klein ist. Und der ganze Krempel zu schwer. Das Wasser zu wenig. Die Jacke zu dünn. Egal, ich ziehe den Reißverschluss zu und mache mich auf den Weg zum Fühlinger See.
Dort startet der Megamarsch, der mich und 1377 weitere Wanderer 100 Kilometer rund um Köln schickt. 791 werden nach spätesten 24 Stunden das Ziel – ebenfalls am Fühlinger See – erreichen. Ich nicht. Dabei hat alles so gut angefangen. Am Start steht eine Frau neben mir, die wie ich zum ersten Mal den Hunderter wagt. Etwa 40 Kilometer später stellen wir fest, dass wir gleich alt sind.
Zwickt die Achillessehne? Ziept das gezerrte Außenband?
Da wissen wir ansonsten schon eine ganze Menge voneinander. Denn eine der Lehren aus meinem ersten Versuch mit der langen Strecke ist: Allein ist sie wirklich verdammt lang. Bei einem guten Gespräch rollen die Kilometer quasi von selbst unter den Füßen ab. Wenn das Schweigen einsetzt, wird das Gehen mühsamer.
Vor ein paar Wochen habe ich mir übel den linken Fuß umgeknickt. Das hat das Training ausgebremst. Noch auf dem Weg zum Start horche ich ängstlich in mich hinein. Zwickt der Ansatz der Achillessehne? Ziept das gezerrte Außenband? Ironie des Schicksals: Zehn Stunden später ist der verdrehte Fuß so ziemlich das einzige Körperteil, das nicht wehtut.
Aber so weit sind wir noch nicht, noch marschieren wir zügig und guter Dinge durch den Nachmittag. Ein bisschen Tempo muss schon sein, sonst reicht die Zeit nicht. Wir halten unsere 5,5 Stundenkilometer gut durch. Unser Weg führt uns den Rhein entlang, über die Deutzer Brücke in Stadtteile, die ich bisher nur dem Namen nach kannte. Und die es nicht gerade in die Top Ten künftiger Ausflugsziele schaffen.
Am Rheinufer kreuzt eine Eidechse den Weg der Mega-Wanderer
Dafür freue ich mich am Rheinufer an einer kleinen Eidechse, die, unbemerkt von den Mitwanderern, unseren Weg kreuzt. In den Tagen zuvor hatte ich mich motiviert mit der Frage, worauf ich mich am meisten freue. Meine Antwort: Ich möchte in den Sonnenaufgang marschieren.
Doch davor kommt bekanntlich die Nacht. Eine große Stadt ist für ein bekennendes Landei faszinierend und schrecklich. Es wird nicht dunkel, es wird nicht still, und richtig kühl wird es auch nicht. Einmal gehen wir Kilometer um Kilometer eine einsame Landstraße entlang, an der wir mit unseren Stirnlampen wie ein Zug verirrter Glühwürmchen aussehen.
Kürzlich hat wohl ein Autofahrer die Kurve geschnitten und die Leitpfosten umgemäht, ein Stück weiter erinnert ein Kreuz an ein Verkehrsopfer. Ein bisschen Aufmunterung in dieser trostlosen Situation bringen die Euskirchener Malteser. Auf zwei dicken Motorrädern knattern sie langsam an uns vorbei, fragen bei jeder Gruppe, ob alles in Ordnung ist.
Am Ende helfen auch Koffein und Vitamin B nicht weiter
Kurz vor dem dritten Rastpunkt, an dem es frisches Wasser und Verpflegung gibt, verlassen mich die Kräfte. Ich kann nicht mehr geradeaus gehen, mein Magen weigert sich, auch nur einen weiteren Bissen des Energieriegels anzunehmen. Ich kann es ihm nicht verübeln, das Zeug ist ekelhaft süß.
Meine letzte Hoffnung ist das Powergel, eine dubiose Substanz mit Koffein und Vitamin B. Meine flatternden Hände kämpfen vergebens mit der Verpackung, schließlich reiße ich sie mit den Zähnen auf und sauge gierig den ziemlich widerlichen Schleim. Da geht er hin, der dünne Firnis der Zivilisation, der uns vom Steinzeitmenschen trennt. Als ich endlich nach 65 Kilometern auf eine Bank sinke, wird mir klar, dass mein Weg hier endet.
Meine Begleiterin versucht, mir noch einmal Mut zu machen: „Es sind nur noch 35 Kilometer. Die sieben Stunden schaffen wir auch noch.“ Sieben Stunden! Schon sieben Minuten sind der reinste Albtraum. Obwohl ich beim Ankommen – es muss so gegen drei Uhr gewesen sein – sofort die Jacke angezogen habe, kann ich nicht aufhören zu zittern. Eigentlich gibt es gar nichts mehr zu entscheiden. Ich lasse mich abholen.
Enttäuscht bin ich schon, dass ich aufgeben musste. Ich wollte so gern in den Sonnenaufgang wandern. Doch es gibt zwei tröstliche Erkenntnisse. Die Sonne hat es auch ohne mich geschafft aufzugehen. Und so schön wie in der Eifel kann ein Sonnenaufgang in Köln gar nicht sein.