Die Schulsozialarbeit nimmt im Kreis Euskirchen einen großen Platz im Klassenraum ein. Das System Schule hat sich stark verändert.
Gefühlte BrennpunktschuleSo trotzt die Mechernicher Grundschule den Problemen
Das Wort Brennpunktschule nimmt Ulrich Lindner-Moog nicht in den Mund. Von Verhältnissen wie in Berlin-Neukölln oder anderen Großstädten sei man in Mechernich noch etwas entfernt. Aber das gelobte Land oder die heile Welt gebe es an der Katholischen Grundschule in Mechernich schon lange nicht mehr. Vielleicht sei es eine gefühlte Brennpunktschule, so der Schulleiter. Aber das wolle in der Politik der Stadt Mechernich wohl niemand hören wollen.
Dabei reicht ein Blick auf die Zahlen, die der Schulleiter wöchentlich ans Land weitergibt: Für 375 Schüler ist Lindner-Moog verantwortlich, 210 von ihnen haben dem Schulleiter zufolge Migrationshintergrund. „Das ist die größte Zahl im Kreis“, so der Schulchef. 76 Kinder seien sogar ohne jegliche Deutschkenntnisse auf der Schule, weil sie beispielsweise Tage zuvor geflüchtet und nun in Mechernich untergebracht seien.
Mechernicher Grundschule: Jede Woche kommt ein neuer Schüler
Jede Woche komme ein neuer Schüler, der wieder integriert werden müsse. Eine Konfessionsschule sei man in Mechernich schon lange nicht mehr. Der Anteil der katholischen Kinder liege unter 50 Prozent, so Lindner-Moog. „Die Schule hat sich aber nicht nur wegen der Flüchtlingswelle in den vergangenen Jahren verändert“, sagt er. Das habe etwas mit dem Wandel der Gesellschaft zu tun. „Eltern ziehen sich immer mehr aus der Erziehungsarbeit zurück und geben sie an die Schule ab“, erklärt der Experte.
Auch das sei ein Grund, warum die Schulsozialarbeit immer wichtiger geworden sei. Die Mechernicher Grundschule sei vor etwa zehn Jahren die erste im Kreis gewesen, an der eine regelmäßige Schulsozialarbeit mithilfe des Jugendamts des Kreises eingerichtet worden sei, so Lindner-Moog. „Das war lange kein Thema, weil man immer wieder sagte, dass man das doch nicht im Grundschulbereich brauche“, berichtet der Schulleiter.
Viele Multiprofessionelle Teams an den Schulen im Kreis Euskirchen tätig
In der Stadt Euskirchen habe es das zwar gegeben, aber da sei es in einer eigenen Trägerschaft gewesen, ergänzt Martina Hilger-Mommer, Teamleiterin Frühe Hilfen, Kindertagesbetreuung, Jugendarbeit, Schulsozialarbeit und Prävention beim Kreis.
Aber nicht nur die Elternschaft habe sich geändert, sondern auch das System Schule. In dem gibt es längst nicht mehr nur Lehrer und Schüler. Es gibt Sonderpädagogen, Bufdis (Bundesfreiwilligendienstler), Schulsozialarbeiter und „Sofas“. Das steht für Schulsozialpädagogische Fachkraft für die Schuleingangsphase – praktisch die dritte und vierte Hand der Klassenlehrer, die es den Schülern erleichtern, in der neuen großen Welt anzukommen. Längst ist von multiprofessionellen Teams die Rede.
Zu diesen gehört auch Monika Esser. Sie ist an der Mechernicher Grundschule Schulsozialarbeiterin – eine von 18 im Grundschulbereich des Kreises Euskirchen. „Langweilig ist bisher kein einziger Tag gewesen. Mitunter sind die Tage vollkommen anders, als ich sie morgens erwartet habe“, sagt Esser im Gespräch mit dieser Zeitung.
Ihr Angebot sei sehr niederschwellig. Sie suche ganz bewusst den Kontakt zu den Schülern – beispielsweise in den Pausen beim Gummitwist. Sie gehe aber auch mit in den Unterricht, hospitiere immer wieder in den unterschiedlichen Klassen. Die Probleme und Streitigkeiten auf dem Schulhof seien sehr unterschiedlich.
„Manchmal geht es nur darum, ob ein Versteck beim Spielen preisgegeben wird oder nicht. Wenn in jungen Jahren aber schon Reviere abgesteckt werden, ist das etwas anderes“, sagt die Schulsozialarbeiterin: „Ich versuche natürlich, auf allen Schulhöfen präsent zu sein.“ Es müsse aber gar nicht immer das Gummitwist sein, das eine oder andere Klatschspiel reiche auch, um mit den Kindern ins Gespräch zu kommen.
Aber funktionieren Klatschspiele bei Viertklässlern, um das Eis zu brechen? „Nein“, sagt die Expertin ganz offen. Für die Fälle habe sie etwa eine Zirkuskiste, die der Förderverein gestiftet habe, erklärt Monika Esser: „Damit erreiche ich auch die älteren Schüler.“ Die Schulsozialarbeit im Kreis Euskirchen sei ein „Ausbauprozess“, sagt Svenja Pommer-Schmitt aus dem Team Schulsozialarbeit beim Kreis Euskirchen.
Seit 2012 werde die Arbeit an den Grundschulen und den Weiterführenden Schulen kontinuierlich erweitert. Mittlerweile bietet der Kreis Euskirchen nach eigenen Angaben an allen öffentlichen Schulen Schulsozialarbeit an. Da man im Vergleich zur Situation vor elf Jahren deutlich mehr Stellen habe, gebe es keinen Fachkräftemangel, sondern einen Fachkräftemehrbedarf, fügt Benedikt Hörter, Fachbereichsleiter Jugend und Familie beim Kreis hinzu.
Politik und Verwaltungen haben Notwendigkeit der Schulsozialarbeit erkannt
Er sei sehr froh und stolz darauf, dass die Schulsozialarbeit im Kreis auch mithilfe der Politik mit so viel Engagement vorangetrieben werde. Es sei auf vielen Ebenen erkannt worden, dass Schulsozialarbeit auch in Grundschulen im Kreis wichtig sei.
Die Arbeit an den Schulen gliedert der Kreis in zwei Teams: Team Grundschule und Team Weiterführende Schule. Bei den Haupt-, Real-, und Gesamtschulen sowie den Gymnasien sind laut Pommer-Schmitt 13 Mitarbeitende auf sieben Vollzeitstellen im Einsatz, bei den Grundschulen sind es 18 Kollegen, die die 31 Grundschulen im Kreis Euskirchen versorgen. In der Summe seien das mehr als zehn Vollzeitstellen, so die Grundschul-Sozialarbeitskoordinatorin. Aktuell seien drei Stellen in der Schulsozialarbeit unbesetzt.
Die Arbeit von Monika Esser und den anderen Mitgliedern des Multiprofessionellen Teams könne an seiner Schule gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, sagt Ulrich Lindner-Moog. Sie unterstütze die Eltern bei Anträgen für Klassenfahrten, bei OGS-Schreiben oder fahre zu den Eltern und schaue sich das Umfeld an, in dem die Kinder aufwachsen, lernen, leben müssten. „So etwas können wir Lehrer kaum noch selbst leisten. Die Schulsozialarbeit entlastet uns enorm“, so der Schulleiter.
Doch mit welchen Problemen kommen die knapp 400 Schüler der Mechernicher Grundschule zu der Sozialarbeiterin? „Ich habe Streit mit einem aus der Klasse, ich möchte morgens nicht zur Schule kommen, Mobbing oder auch familiäre Probleme“, antwortet Monika Esser. Und dann gebe es da noch die Probleme der geflüchteten Familien.
„Viele erzählen mir, dass zu Hause große Angst herrsche. Wie lange sind wir noch hier, welche neue Entscheidung der Behörden steht an“, so Esser: „Die Angst der Eltern überträgt sich auf die Kinder.“ Es sei stets ein Balanceakt, die Eindrücke aus den Gesprächen ans Kollegium zu spiegeln. Schließlich obliege das dem Datenschutz, so Monika Esser. Dennoch sei es oft wichtig, ihre Eindrücke weiterzugeben, damit auch Lehrer manche Situation besser einschätzen könnten.
Die Gespräche mit Schülern, mit Eltern oder mit Schülern und Eltern finden laut Esser niemals in der Öffentlichkeit statt, sondern immer in einem geschlossenen Raum. Die Tür zuzumachen, sei wichtig. So wichtig, dass es eine Grundvoraussetzung für Schulsozialarbeit an einer Schule ist, so Hilger-Mommer.
„Bei Mädchen ist der Redebedarf deutlich größer“
Auch an den Weiterführenden Schulen im Kreis Euskirchen gibt es Schulsozialarbeiter. Yvonne Scholtysik ist eine von ihnen. Sie ist an der Gesamtschule in Weilerswist tätig. Allerdings ist Scholtysik nicht vom Kreis Euskirchen angestellt, sondern über das Land. „So gehöre ich wirklich zur Schule, weil ich auf einer Lehrerstelle sitze“, sagt sie.
Dennoch sei sie keine Lehrerin, sondern eben Schulsozialarbeiterin. „Ich habe mit Unterricht nichts am Hut. Ich darf keine Pausenaufsicht machen, darf keinen Vertretungsunterricht oder auch keine Noten geben“, so Scholtysik. Sie sei jeden Tag an der Schule und führe auch jeden Tag Gespräche mit Schülern. „Die Themen sind sehr vielfältig. Es geht um Konflikte, es geht um Mobbing, es geht um Probleme von Jugendlichen“, erklärt Scholtysik.
Ihre Arbeit habe sich durch die Corona-Pandemie verändert. „Viele Schüler sind durch das Homeschoolling und die Lockdowns desozialisiert“, so die Expertin: „Viele können Probleme nicht mehr direkt ansprechen. Das Konfliktlösungspotenzial ist enorm gesunken“, berichtet Scholtysik. Seit Mai hat die Schulsozialarbeiterin ihr Büro im ehemaligen Hausmeisterhaus, das die Schule zu einem Multifunktionshaus umgestaltet hat. „Früher war ich mehr im Geschehen, hier habe ich dafür bei Gesprächen eher mal meine Ruhe“, sagt sie.
Um von den Problemen und dem Alltag der Schüler etwas mitzubekommen, tummele sie sich während der Pausen aber immer in der Schule. Schulsozialarbeit an der Gesamtschule Weilerswist sei immer ein freiwilliges Angebot. Die Arbeit von Scholtysik beschränkt sich nicht auf die Gespräche mit Schülern. Die Expertin leitet den Schulzirkus, unterstützt beim sozialen Lernen in der Jahrgangsstufe 5, hilft beim Förderunterricht oder netzwerkt im Sozialraum Euskirchen, Erftstadt und Swisttal.
„Wichtig ist, Schüler in anderen Kontexten kennenzulernen. Es bringt nichts, einen Schüler kennenzulernen, wenn das Problem schon aufgetreten ist“, so Scholtysik: „Es ist sinnvoll zu wissen, wie Schüler ticken.“
Ihre Arbeit mache ihr viel Spaß. Bei der täglichen Arbeit gebe es große Unterschiede – beispielsweise bei Konfliktgesprächen. „Jungs müssen nicht immer viel reden. Die gucken sich einmal an und dann ist die Sache ausgeräumt. Bei Mädchen ist der Redebedarf deutlich größer“, so die Schulsozialarbeit. Das Zicken und Mobben spiele sich vor allem im Digitalen ab. „Das meiste ist alles gut handelbar“, sagt sie.