Viele Patienten warten lange auf psychotherapeutische Behandlung. Es gibt zu wenig Therapeuten – auch wenn offizielle Zahlen etwas anderes sagen.
Seelische ErkrankungenIm Kreis Euskirchen enden Hilferufe oft am Anrufbeantworter
Es sei ihr sehr schwergefallen, den Satz auf den Anrufbeantworter zu sprechen, sagt Lea Erlinghagen. Die Psychotherapeutin aus Bad Münstereifel weiß, wie niederschmetternd es für die Anrufer ist, diese Worte zu hören: „Leider verfüge ich über keine freien Therapieplätze.“
Viele legen schon auf, bevor der Piepton ertönt. Zu oft haben sie ähnliche Sätze schon gehört. Noch mehr Hoffnungslosigkeit können sie jetzt nicht gebrauchen, nicht in dieser Phase ihres Lebens.
Bis zum Therapiestart kann es mehr als ein Jahr dauern
Kommt es dennoch zum Erstgespräch, dauert es in der Regel Monate oder auch schon mal mehr als ein Jahr bis zum eigentlichen Therapiestart. „Zurzeit habe ich 39 Namen auf der Warteliste“, sagt Lea Erlinghagen. Wartezeit für Nummer 39? Wenn's schlecht läuft, bis zu zwei Jahren. „Das ist frustrierend“, so die 36-Jährige, „für beide Seiten.“
Ihre Kolleginnen und Kollegen im Kreis berichten Ähnliches. Gleichzeitig bilanzieren die Krankenkassen immer mehr psychische Erkrankungen. Viele Menschen im Kreis Euskirchen erhalten aber nicht die Hilfe, die sie brauchen. Es gibt zu wenig zugelassene Psychotherapeuten (siehe auch Artikel unten).
Die Flut war im Kreis Euskirchen für viele noch die Schippe obendrauf
Das alles nach Corona, während der Kriege in der Ukraine und in Nahost und andernorts. Dazu der Klimawandel als Dauerkrise und die zermürbende Frage für viele, ob und wie sie bei den steigenden Preisen finanziell über die Runden kommen sollen.
Als wäre das alles noch nicht genug, kommt in unserer Region noch die Flut mit all ihren Folgen hinzu – als ein Ereignis direkt vor und bei vielen auch hinter der eigenen Haustür. Die Ereignisse der Julinacht 2021 haben den Bedarf noch einmal erhöht. „Die Flut war für viele die Schippe obendrauf“, ordnet Lea Erlinghagen ein.
Schon vor der Katastrophe habe für viele Patientinnen und Patienten einiges im Argen gelegen, sagt Regina Uhlig, die in Nettersheim eine Praxis betreibt. Wenn etwa zum Mobbing in Job oder Schule, zu Problemen in Ehe und Familie, zu Einsamkeit, Ess- und Persönlichkeitsstörungen oder Suchtproblemen noch eine Naturkatastrophe komme, verstärke das die bereits vorhandenen Probleme oder schaffe neue massive Belastungen, die in Krankheitsbildern münden könnten.
Wenn plötzlich Wasser die eigenen vier Wände flutet, die bislang als geschützter Raum dienten, komme es geradezu zwangsläufig vermehrt zu Kontrollverlusten, Angst- und Panikstörungen.
„Oft“, so Regina Uhlig, „treten seelische Belastungen aber erst lange nach der Katastrophe auf, wenn der Versicherungskram geregelt und die Schäden beseitigt sind.“ Ähnlich wie bei Todesfällen in der Familie, wo das ganze Ausmaß der Trauer oft erst dann eintritt, wenn die Organisation der Beisetzung erfolgt ist. „Es ist nicht so, dass man sagen kann: ,Hier ist das Trauma und zwei Tage später kommen die Symptome'“, erläutert Regina Uhlig. In den meisten Fällen handele es sich um eine Kombination verschiedener Faktoren.
Das Gefühl von Kontrollverlust baue sich wie alle seelischen Erkrankungen nach und nach auf, erläutert Lea Erlinghagen. „Dann kann schon der Anblick einer zerstörten Erftbrücke zum Zeichen dafür werden, dass auch die eigene kleine, heile Welt nicht mehr existiert.“ Allein schon deswegen sei es wichtig, die sichtbaren Schäden rasch zu beseitigen.
Der Bad Münstereifer Psychotherapeut Lutz Nelles erlebt durch die Nähe zur Landesgrenze zu Rheinland-Pfalz und zum Ahrtal verstärkt, was die Flut mit den Menschen macht. Aber auch er sagt: „Die Flut ist natürlich ein Thema bei den Patienten, aber selten das einzige.“
Arbeitsstress ist fast immer ein Thema bei den Patienten
Der Bedarf nach psychotherapeutischer Behandlungen sei ja auch andernorts gestiegen. „Der Arbeitsstress ist fast immer ein Thema bei den Patienten“, stellt Nelles fest. Volle Mail-Postfächer, Kurznachrichten, Soziale Netzwerke, alles das, was Psychologen die „Zuvielisation“ nennen, führten zu Reizüberflutungen, die immer mehr Menschen nicht mehr bewältigen könnten. „Es ist vielleicht schön für den Chef oder die Kunden, wenn man auf dem Handy quasi 24/7 erreichbar ist, nicht aber für den Arbeitnehmer“, weiß Nelles aus der Praxis.
Eine Warteliste führt Nelles nicht mehr. Zu groß sei die Enttäuschung der Hilfesuchenden, wenn er die angegebene Wartezeit nicht einhalten könne, weil akute Fälle dazwischengekommen sind.
Jede Woche führe er Erstgespräche, auch weil es seit 2017 Voraussetzung für die Kassenzulassung sei. Diese Erstdiagnose-Gespräche seien auch sinnvoll, um festzustellen, ob eine Gefahr für den Patienten bestehe, etwa bei Suizidgedanken, und eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik vonnöten ist.
Um jedoch festzustellen, ob es sich „nur“ um eine vorübergehende Befindlichkeit handelt, wie es der Politik vorgeschwebt habe, sei das Erstgespräch nicht geeignet. „Seit 2017 habe ich kein Erstdiagnose-Gespräch geführt, das keinen Behandlungsbedarf ergab.“
Patienten kostet es viel Kraft, ihre Scham zu überwinden
Das sei auch wenig überraschend. Denn obwohl das Vorurteil, psychische Erkrankungen seien nichts als eine Schwäche, langsam aufbreche, koste es die Betroffenen viel Kraft, ihre Scham zu überwinden und sich Hilfe zu suchen. „Die meisten Patienten werden von ihren Hausärztinnen und -ärzten dazu bewegt“, sagt Regina Uhlig: „Die sind auf Zack.“
Für die Betroffenen sei es schwer zu erkennen, ob es sich um ein vorübergehendes Tief handelt oder um eine sich anbahnende ernsthafte Erkrankung, so die Fachleute. Ist es noch Melancholie oder schon der Beginn einer Depression? Gesunde Vorsicht, Ängstlichkeit oder schon eine Angst- oder Panikstörung? Die Übergänge sind fließend und von der Seele gibt es keine Röntgenbilder.
Daher braucht es Zeit, um die Ursachen zu ergründen, die zuweilen Jahre oder Jahrzehnte zurückliegen und teils aus dem Gedächtnis verdrängt wurden, sich aber folgenschwer in die Seele eingraviert haben. Sie müssen aufgearbeitet werden, um Linderung zu erreichen.
50 Minuten sind für einen Termin vorgesehen, dazu kommen Vor- und Nachbereitungen. Allein zeitlich sind die Kapazitäten der Psychotherapeuten also begrenzt. Alle sieben bis 14 Tage kämen die einzelnen Patientinnen und Patienten, so Erlinghagen. Etwa zwei Jahre lang dauere die Behandlung im Schnitt. 16 bis 20 Termine sind aktuell das Limit für Regina Uhlig und Lea Erlinghagen. „Vom Kopf und vom Mitgefühl her ist man auch irgendwann erschöpft“, sagt Erlinghagen.
Nur wenn die Zahl der Patientinnen und Patienten im Rahmen bleibe, könne dem oder der Einzelnen geholfen werden, so die beiden Psychotherapeutinnen. Zuweilen lasse sie eine Therapie früher enden, als sie es früher getan hätte, „um anderen eine Chance zu geben“, sagt Lea Erlinghagen. Selbstverständlich nur dann, wenn es fachlich zu vertreten sei. Gerne tue sie das nicht.
Zuweilen überlegt Erlinghagen auch, die Warteliste zu schließen, andererseits wolle sie den Betroffenen wenigsten eine Option bieten. „Doch ist eine Wartezeit von mehr als einem Jahr wirklich eine Option?“, fragt sie.
Anlaufstellen für Menschen in einer akuten psychischen Krise
Wohin können sich Menschen, die sich in einer akuten psychischen Krise befinden, oder deren Verwandte und Freunde wenden? Laut Kreisverwaltung gibt es keine Notrufnummer für eine 24-stündige Telefonberatung. Daher sollte man zu seinem Hausarzt gehen oder in der Praxis anrufen.
Alternativ sollte Kontakt zu einer Klinik mit psychiatrischer Abteilung aufgenommen werden. Es bestehe auch die Möglichkeit, mit dem ärztlichen (psychiatrischen) Bereitschaftsdienst (bundesweite Rufnummer 116 117) in Verbindung zu treten. Die Telefonseelsorge biete eine anonyme, kostenlose Beratung zu jeder Tages- und Nachtzeit unter den bundesweiten Telefonnummern 11 61 23 oder 08 00/1 11 01 11 oder 08 00/1 11 02 22 oder im Netz.
Das Kinder- und Jugendtelefon „Nummer gegen Kummer“ bietet kostenlose Beratung montags bis freitags 15 bis 19 Uhr unter 116 111 oder 0800/111 0 333.