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Drei Jahre danachWie ein Flutopfer zum Mutmacher für viele andere in der Eifel wird

Lesezeit 9 Minuten
Franz Schockert steht in Gemünd auf dem Platz an der Alten Schule vor dem Brauhaus.

Den Platz vor der Alten Schule und dem Brauhaus in Gemünd findet Franz Schockert nach der Flut wieder schön.

Franz Schockert aus Gemünd hat bei der Flutkatastrophe sein Geschäft und seine Wohnung verloren. Doch er ist für viele ein Mutmacher.

Der Tag, an dem das Wasser kam. Diesen 14. Juli 2021 und die schreckliche Nacht wird niemand in den Flutgebieten in Nordrhein-Westfalen und im Ahrtal vergessen. Drei Jahre sind seit der Katastrophe vergangen. Franz Schockert sitzt in seinem wiederaufgebauten Wohnzimmer in Gemünd. Optisch erinnert nichts mehr an den stinkenden Schlamm, an das Chaos und die Zerstörung. Doch die Erinnerungen an die Stunden der Angst und den Anblick des verwüsteten Ortes, als der Morgen graut, sind präsent, als wäre es gestern gewesen.

„In 20 Minuten war die Existenz weg“, sagt Schockert. Rasend schnell und von allen Seiten ist das Wasser gekommen. Bis zu fünf Meter hoch haben sich Urft und Olef in Gemünd aufgetürmt. Eine Flutwelle ist durch den Ort gerauscht, hat alles mit sich gerissen, wessen sie habhaft werden konnte. Neun Menschen sterben in der Stadt Schleiden, 26 in Kreis Euskirchen, 49 in NRW.

In Gemünd hat Franz Schockert seine Wohnung und sein Geschäft verloren

1,80 Meter hoch hat das Wasser in Schockerts Juweliergeschäft und der dahinter gelegenen Wohnung gestanden. Immer wieder erwähnt Schockert etwas, das ihm seine Eltern mitgegeben haben. „Ein Tag ohne Lachen ist ein verlorener Tag“, habe sein Vater immer gesagt. Das lebt Schockert. Mit einer Ausnahme: An diesem schwarzen Donnerstag, dem 15. Juli 2021, kann er nicht lachen. Recht schnell jedoch besinnt sich der heute 73-Jährige erneut der Worte seines Vaters: „Wenn eine Bombe hier reinfällt: Was machen wir Schockerts? Wir fangen bei Null wieder an!“

So haben auch er und seine Frau Heike mit den unzähligen Helfern geschippt, gestemmt, große Teile ihres Besitzes auf die Müllberge geworfen. Die Maschinen und Werkzeuge der Uhrmacherei sind kaputt, 400 Uhren nicht zu retten – und der heißgeliebte, 22 Jahre alte Audi. Schnell steht für Uhrmachermeister Schockert fest: Mit 70 baut er den Laden nicht wieder auf. Die mehr als 100-jährige Familientradition von „Uhren Schmuck Schockert“ ist mit der Flut untergegangen.

Franz Schockert steht in Gemünd vor seinem ehemaligen Ladenlokal. Heute ist dort ein Teegeschäft.

„100 Jahre Uhren Schmuck Schockert“ steht auf dem Schild über dem Ladenlokal. Die Flut hat die Geschichte des Traditionsbetriebs beendet, heute ist dort ein Teegeschäft.

Das Bild zeigt das noch von Wasser überschwemmte Gemünd am Morgen des 15. Juli 2021.

Einer Seenlandschaft gleicht Gemünd am Morgen des 15. Juli 2021. Bis zu fünf Meter hoch hat sich die Flutwelle aufgetürmt und den Ort zerstört.

Das Bild zeigt Schutt und Müll nach der Flutkatastrophe 2021 in Gemünd.

Schlamm und Schutt dominieren die Bilder in den Flutorten nach der Katastrophe vom 14. Juli 2021. Alleine im Kreis Euskirchen sind mehr als 100.000 Tonnen Flut-Sperrmüll aus den Orten zu schaffen und zu entsorgen.

Nicht aber der Mensch Franz Schockert. Er strahlt weiterhin die für ihn so typische Ruhe aus, eine große Herzenswärme, noch mehr Empathie und Optimismus. Dies hat auch Achim Blindert, Allgemeiner Vertreter des Kreis Euskirchener Landrats, bei einem seiner Besuche in Gemünd gespürt.

Der Kreis kann Schockert für ein Ehrenamt gewinnen, das er seit einem Jahr engagiert lebt: Er ist Wiederaufbau-Botschafter – der Mutmacher. Das entspricht seinem Selbstverständnis: „Ich kann nicht anders, ich bin eben so erzogen worden.“ Und es entspricht in gewissem Sinne auch einem Versprechen, das er seiner Mutter kurz vor ihrem Tod gegeben hat: „Pass‘ auf alle auf.“

Heute ist Franz Schockert für die Menschen ein Mutmacher

In der Hauptsache ist Schockert in seinem Gemünd und in den umliegenden Orten unterwegs. Er bietet ein niederschwelliges Angebot für eine erste Kontaktaufnahme. Mit Hunderten hat er inzwischen gesprochen. Er macht immer wieder auf die Hilfsangebote aufmerksam, die für die Seele und die für den Geldbeutel. Er gibt Flyer weiter, er vermittelt zu den Experten.

Gerne hätte der Kreis Euskirchen auch in anderen Orten Botschafter gewonnen. Das gelingt aus verschiedenen Gründen nicht: Mal passen die Kompetenzen nicht, mal ist jemand nicht so gut vernetzt – oder schon in anderen Bereichen engagiert. Daher kommt Kreis-Sprecher Wolfgang Andres zu dem Schluss: „Franz Schockert ist unser einziger Botschafter und in der Rolle ein echter Volltreffer.“

Die psychologischen Hilfen sind auch drei Jahre nach der Flut nötig

Gerade die psychischen Hilfen liegen Schockert am Herzen. Er und seine Frau haben sich die dringend erforderliche Hilfe geholt, erhalten sie immer noch. Das hilft ihm bei seinen Gesprächen. „Ich bin doch nicht bekloppt“, beschreibt Schockert die typische ablehnende Haltung vieler, wenn es um Hilfe für die Seele geht. „Soso, dann bin ich also bekloppt“, antworte er dann. Wie diese Gespräche weitergehen, ist leicht auszumalen.

Schockerts eigene Geschichte ist oft ein Türöffner. Dass es keine Schwäche ist, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dass man eben nicht bekloppt ist. Dass die Menschen in sich gehen und begreifen, dass die seelischen Wunden zuweilen nicht von alleine heilen. Von 30, vielleicht 40 Betroffenen weiß Schockert, dass sie sich danach zu Psychologen begeben haben. Reden würde er niemals darüber: „Das ist wie ein Arztgeheimnis. Oder Geschäftsgeheimnis. Jedenfalls geht es keinen was an.“

Dass die psychologischen Hilfen auch drei Jahre nach der Flut nötig sind, bestätigt Frank C. Waldschmidt von der Interkommunalen Psychologischen Unterstützung (IPSU), die ein niederschwelliges Angebot macht: Alleine das Team in Gemünd hat im ersten Quartal 2024 über 250 Gespräche geführt, rund 100 mehr als im gleichen Zeitraum 2023.

Einige haben noch keinen Antrag auf Wiederaufbauhilfe gestellt

Nicht viel anders ist es mit den Wiederaufbauhilfen. 30 Milliarden haben Bund und Länder nach der Flutkatastrophe zur Verfügung gestellt. Privathaushalte und Unternehmen der Wohnungswirtschaft haben (Stand Ende Februar) in NRW knapp 26.000 Anträge mit einem Volumen von 793,3 Millionen Euro gestellt. Alleine im Kreis Euskirchen sind es mehr als 8700 Anträge und 303,3 Millionen Euro. In Land und Kreis sind mehr als 95 Prozent der Verfahren abschließend bearbeitet.

Für den Wiederaufbau der öffentlichen Infrastruktur und Einrichtungen sind dem Kreis Euskirchen und seinen elf Kommunen knapp 900 Millionen Euro bewilligt. Diese Zahl wird voraussichtlich deutlich steigen, da in vielen Städten und Gemeinden Änderungsanträge vorbereitet werden oder bereits eingereicht sind.

Viele schämen sich, einen Antrag zu stellen. Gerade die Älteren.
Franz Schockert

Die meisten Betroffenen, weiß Schockert, sind mit dem Wiederaufbau ihrer Häuser fertig oder auf einem guten Weg. Zehn Prozent vielleicht sind noch „übrig“. Das sind die komplizierten Fälle. Oder diejenigen, für die es auch einen wie Schockert braucht, sie zu überzeugen, dass es keine Schande ist, finanzielle Hilfe anzunehmen. „Viele schämen sich, einen Antrag zu stellen. Gerade die Älteren“, sagt Schockert. „Ich will nichts von Vater Staat“, höre er oft. Dann könne er auch mal laut werden: „Es ist Hilfe und kein Almosen.“

Helfen kann selbst Mutmacher Schockert nicht jedem. Ja, das nagt an ihm, das frustriert manchmal. Etwa der Fall eines Mannes, dessen Frau ihn gebeten hat, mal das Gespräch zu suchen. Doch es sei nichts zu machen gewesen: „Ich bin einfach nicht an ihn rangekommen.“ Als hoffnungslosen Fall mag er dies keinesfalls bezeichnen: „Wer weiß, vielleicht kommt es ja noch.“ So sei das halt mit der Erkenntnis, Hilfe zu brauchen: Häufig komme sie erst Jahre nach der Katastrophe.

Schicksal vom Hotel Friedrichs macht Gemünder und Touristen traurig

Die Gemünder, ihre Geschichten, ihre Schicksale kennt Schockert (fast) alle. In der Fußgängerzone bietet sich ein Bild voller Kontraste: Einige Geschäfte sind wieder da, andere neu dazugekommen. Es sind Frauen und Männer mit dem Mut, nach der Katastrophe etwas aufzubauen. Mit Mut, sich gegen die Online-Konkurrenz zu stellen, die Schockert aus seiner Zeit als Geschäftsmann noch allzu gut kennt. Aber es sind auch noch viele Häuser, in denen es aussieht wie im Juli 2021, kurz nach der Katastrophe. Oder in denen gerade gearbeitet wird.

Franz Schockert steht in Gemünd vor dem Hotel Friedrichs, in dem der Wiederaufbau noch nicht begonnen hat.

Ein Blick, der auch drei Jahre nach der Flut weh tut: Im traditionsreichen Hotel Friedrichs ist von Wiederaufbau noch keine Spur.

Unterhalb des Hotel Friedrichs ist das Loch in der Ufermauer zu sehen, das die Wassermassen in der Flutnacht im Juli 2021 gerissen haben.

Wie eine tiefe Wunde klafft nach der Flut ein Loch in der Ufermauer am Hotel Friedrichs. Inzwischen ist dort eine Stützmauer vorgesetzt.

Vier Männer und eine Frau stehen im von der Flut zerstörten Hotel Friedrichs in Gemünd.

Im Hotel Friedrichs hat der Wiederaufbau noch nicht begonnen. Das Bild entstand im Dezember 2022 und zeigt von links Sven Wolf (MdL, SPD, Vorsitzender Untersuchungsausschuss Flut), die Fluthelfer Sabine und Hans Mießeler, Hotelbesitzer Manfred Pesch und Thilo Waasem, Vorsitzender der SPD im Kreis Euskirchen.

Manche Anblicke machen ihn wie alle Gemünder traurig. Der des Hotel Friedrichs etwa. „Was war das schön, auf der Terrasse zu sitzen und ein Weinchen zu trinken“, sagt Schockert mit Blick vom Nepomuk-Platz über die Urft auf das, was bis zum 14. Juli 2021 eben jene Terrasse war, auf der die Gemünder und die Touristen im Sommer so gerne gesessen haben. Das Schicksal des Hauses ist völlig offen: Die Besitzerfamilie baut in der Alten Posthalterei in Euskirchen ein neues Restaurant auf, eine Anwaltskanzlei bereitet den Verkauf des Hotel Friedrichs vor.

Schockert weiß das. Er weiß um jeden Hintergrund, warum die Dinge sind, wie sie sind. Daher zieht der Pragmatismus schnell wieder ein. Daher sieht er auch die Hausbesitzer als Vermieter in der Pflicht. Wenn sich jemand finde, der in Gemünd einen Laden aufmachen möchte, müsse man dem  entgegenkommen. Auch hier versucht er, mit den Leuten zu sprechen. Etwa, wenn die ihn für verrückt halten, dass er sein eigenes Ladenlokal, in dem heute ein Teegeschäft ist, sehr günstig vermietet: „Leute, ihr schneidet euch doch ins eigene Fleisch, wenn ihr nicht vermietet“, pflege er dann zu sagen.

Der Wiederaufbau wird noch einige Jahre dauern

Auch wenn ein Juwelier gerade an der Dreiborner Straße sein Geschäft eröffnet hat, ein Café in den Startlöchern steht, eine Arztpraxis eingerichtet wird: Es stehen noch viele Ladenlokale leer. Ein Schuhgeschäft, eine Drogerie, ein Obst- und Gemüsegeschäft stehen auf Schockerts Wunschzettel. Er weiß, dass das nicht von jetzt auf gleich zu realisieren ist. Doch er ist sicher, dass alles gut wird: „Warte noch vier, fünf Jahre. Vielleicht auch bis zehn Jahre nach der Flut. Dann sieht Gemünd wieder anders aus.“

Wenig Verständnis zeigt er für die Kritik an der Stadt und Bürgermeister Ingo Pfennings. Erstens, so Schockert: Auf die Privathäuser haben die gar keinen Einfluss. Zweitens: Bei allem, was die Stadt tut, ist sie den bürokratischen Regeln mit Ausschreibungen und Regularien unterworfen. Zudem sei im Rathaus keine riesige Mannschaft: „Die können doch auch nicht mehr als arbeiten.“

Eigentlich, findet Schockert, ist die Gemeinschaft in und nach der Katastrophe gewachsen. Doch das bekommt inzwischen Risse. Während er selbst sich ehrlich für und mit jedem freut, der einen Schritt beim Wiederaufbau geschafft hat, ist das nicht bei allen so: „Es gibt schon wieder Neid und Eifersucht auf andere, denen es gerade etwas besser geht oder die etwas weiter sind.“

Hoffnung macht ihm, dass nach der Flut deutlich weniger weggegangen sind, als zu befürchten stand. Ja, auch er habe sich mit dem Gedanken getragen, alles zu verkaufen und gen Süden, nach Bayern, zu ziehen. Doch seine Frau habe ihn darauf hingewiesen, dass Gemünd nun mal seine Heimat sei. Also sind sie geblieben. Wie so viele. Oder wie die, die zuerst weggegangen, aber zurückgekehrt seien.

Ein Mutmacher wie Franz Schockert ist ein Glücksfall für einen so hart getroffenen Ort wie Gemünd. Bei all seiner Ruhe, seiner Wärme und seinem Optimismus stellt sich die Frage, ob irgendetwas ihn so richtig aufregen kann? Er lacht herzlich: „Beim Spielen, Monopoly oder Karten. Da kann ich zur Wildsau werden. Beim Spielen kann ich nicht gut verlieren.“ Nein, ernst meint er das nicht. Warum auch? Denn Schockert ist zufrieden: „Ich habe meine Frau. Das ist wie ein Sechser im Lotto mit Zusatzzahl und allem Drum und Dran. Was brauche ich denn mehr?“