Raze und Shaban Delija flohen in der Flutnacht vor dem Wasser. Sie verloren ihr Leben. Der Wiederaufbau ist für ihre Kinder noch ungewiss.
FlutkatastropheDas Auto an der Brücke in Gemünd und das Schicksal dahinter
Der schwarze Mercedes-SUV, kopfüber auf dem Geländer an der Olef in Gemünd. Es ist eines der Bilder vom Morgen des 15. Juli 2021. In dem Auto saßen Shaban Delija, 65 Jahre alt, und seine Frau Raze, 61 Jahre alt. Sie wollten vor dem Wasser flüchten, das unaufhaltsam ihr Haus an der Neustraße flutete. Sie kamen nur ein paar Hundert Meter weit. Shaban und Raza Delija sind tot. Das Bild steht für das Schicksal der Familie.
In der Flutnacht spielen sich dramatische Szenen ab
Valbone Venticinque ist eines der sechs Kinder der Delijas. Im Sommer 2021 lebt sie mit ihrem Mann und den beiden kleinen Jungs in Weilerswist, ihr ältester Sohn (heute 20) lebt in Gemünd. Sie arbeitet am 14. Juli 2021 in einer Bäckerei in Heimerzheim. Schon die abendliche Heimfahrt gibt ihr eine Ahnung, welche Wucht das Wasser hat. Für die Strecke braucht sie anderthalb Stunden, die Unterführung ist vollgelaufen, Straßen sind unpassierbar.
Daheim angekommen, ruft sie gegen 20.30 Uhr zuerst bei den Eltern an. Will wissen, wie es ihnen geht, was sie machen. „Fernsehgucken. Alles ist gut“, habe ihr Vater gesagt. Eigentlich hätten die Eltern sie an diesem Abend besuchen sollen: „Papa hat sich nicht wohl gefühlt. Wenn sein Blutdruck hoch ist, fährt er nicht gerne Auto.“ Es bleibt das Telefon.
Gegen 21.30 Uhr, ihr Mann ist von seinem Arbeitgeber, einer Haustechnik-Firma, gerade nach Euskirchen zum ebenfalls volllaufenden Veybach-Center beordert worden, das nächste Gespräch mit dem Vater: „Ich weiß nicht, was ich machen soll. Das Wasser kommt von überall rein.“ Sie sieht es im Video-Anruf. Es ist das Letzte, was Valbone Venticinque von ihrem Vater hört. Die Leitung ist tot.
Später erfährt sie, dass es dem Vater und dem im Elternhaus lebenden Bruder Haxhia gelingt, die aufgrund von Rückenproblemen gehandicapte Mutter in die erste Etage zu bringen. Dass das Wasser vom Hang aus auch dort eindringt. Dass die Mutter Angst bekommt, panisch wird, nicht zu beruhigen ist. Und die Eltern mit dem Auto wegfahren. „Ich bringe sie nach Weilerswist zu Valbone“, sagt Venticinque, habe der Vater zu ihrem Bruder gesagt. Gegen 23 Uhr muss das gewesen sein.
Sie selbst kann nicht weg: Sie ist mit den Kindern, heute fünf und sieben Jahre alt, allein. Gegen 5, 6 Uhr am Morgen kommt ihr Mann nach Hause. Dass es „auch bei uns losgeht“, habe er von der Feuerwehr erfahren – auch ihre Wohnung wird später durch das Wasser massiv beschädigt. Er holt die Kinder aus dem Bett, sie fahren zu ihrem Bruder Bayram nach Frauenberg. Dort wartet der nächste Schreck: Dessen Freundin ist da, sagt, dass Bayram am Abend nach Gemünd gefahren sei.
Die Kinder müssen die quälende Ungewissheit ertragen
Die Kinder sind bei der Freundin in Sicherheit. Valbone Venticinque und ihr Mann machen sich auf den Weg nach Gemünd. Vor Mauel müssen sie das Auto stehen lassen, die Straßen sind nicht passierbar. Zu Fuß gehen sie die Kölner Straße entlang. „Hast du etwas gehört? Etwas gesehen?“ Sie sprechen jeden an, der ihnen begegnet. Schauen in jedes schwarze Auto. Am Kreisel, wo heute der Rewe ist, in dem Valbone Venticinque arbeitet, kommt ihnen Bruder Bayram entgegen.
Er hat es abends nicht nach Gemünd geschafft, musste ausharren, bis das Wasser weicht. Er habe nur den Kopf geschüttelt, sagt Venticinque. „Und zu meinem Mann gesagt: Bring sie weg!“ Doch Mann und Bruder hatten keine Chance: „Ich will zu Mama und Papa. Wollt ihr mich verarschen?“ An der Ampel-Kreuzung treffen sie ihren Bruder Haxhia. Und sie sieht das Auto ihrer Eltern. Ein Kennzeichen ist noch da. „Wir haben eine Tasche von Mama gefunden. Da war nur noch ein Pantoffel drin. Sonst nichts.“
Wo sind die Eltern? Die anderen Geschwister kommen nach Gemünd. Sie suchen, alle zusammen. Am Donnerstag, am Freitag, am Samstag. Klappern Gemünd ab, die Umgebung, die Krankenhäuser, die Unterkünfte, halten Kontakt zur Polizei. Nichts. „Die Hoffnung stirbt echt erst ganz zum Schluss.“
Erst Tage nach der Flut Gewissheit über das Schicksal der Eltern
Bis zum Sonntag dauert die Suche. „Ein Polizist hat uns am Telefon gesagt, dass wir nach unserem Vater nicht mehr suchen müssen.“ Später zeigt die Polizei ihnen ein Bild von ihm. Er war in einem Waldstück bei Malsbenden gefunden worden. Von der Mutter fehlt weiter jede Spur. Sie suchen weiter. Am Sonntag, am Montag, am Dienstag. Nichts.
Am Mittwoch der Anruf der Polizei: „Ich sollte eine Speichelprobe abgeben, um sie mit einer DNA-Probe zu identifizieren. Wir haben auch die Zahnarzt-Unterlagen besorgt. Und der Polizist sagte, dass es besser ist, wenn wir sie nicht mehr sehen.“ Auch ihre Leiche ist bereits Tage zuvor gefunden worden – im Bereich des Brauhauses. Doch zunächst weiß niemand, wer die Frau ist.
Was genau am späten Abend des 14. Juli passiert ist, wissen Valbone Venticinque und ihre Geschwister nicht. Es wird wohl nie rekonstruiert werden können. Sie ist überzeugt: „Das Wasser muss sehr schnell von beiden Seiten gekommen sein. Papa hätte nichts riskiert. Wenn er es hätte sehen können, wäre er sofort zurückgefahren.“
Der letzte Wunsch des Vaters: In der Heimat beerdigt werden
„Wenn mir etwas passiert, will ich in der Heimat beigesetzt werden. Ich bin doch nur weggegangen, weil ich musste.“ Vor 15 Jahren, vor einer Herz-OP, sagt Venticinque, hat ihr Vater ihr und ihrem Bruder dieses Versprechen abgenommen. Das sie einhalten. Der Tradition des muslimischen Glaubens folgend, möchten sie die Bestattung so schnell wie möglich durchführen.
Bis zum Abflug nach Pristina sind aber bürokratische Hürden zu nehmen. Es gibt keine Papiere der Eltern mehr. Und keine von Haxhia Delija – auch die hatte die Mutter mit eingepackt, als sie ihr Haus verlassen hat. In den Trümmern von Gemünd sind sie unauffindbar.
Freitags fliegen die Geschwister in den Kosovo. Ob sie am nächsten Tag nur den Vater beerdigen oder auch die Mutter, wissen sie nicht. Was sie erwartet, wissen sie nicht. Sie sind dort Fremde, auch wenn über das Schicksal der Eltern berichtet wurde. „Viele Leute haben uns sehr geholfen. Aber für andere sind wir die, die abgehauen sind.“ Erst am Samstagmorgen, kurz vor dem Überführungsflug, erfahren sie, dass auch der Leichnam der Mutter freigegeben ist. Raze und Shaban Delija werden in ihrem Heimatdorf Zahaq bestattet.
Zu den Jahrestagen sind die Geschwister im Kosovo, besuchen das Grab ihrer Eltern. „Das wird wohl eine Familientradition.“ Einen 14. Juli in Gemünd zu verbringen, wo sie mit ihrer Familie seit Herbst 2022 wieder lebt, kann Valbone Venticinque sich nicht vorstellen.
Das Haus in Gemünd ist seit der Flut eine Ruine
Das Elternhaus, inzwischen auf Haxhia Delija überschrieben, ist eine Ruine. Eine Elementarschadenversicherung gibt es nicht. Und die Familie teilt das Schicksal mancher Flutbetroffener. Sie sind an unseriöse Handwerker geraten. „Die haben angefangen, wir haben bezahlt, dann waren sie weg.“ 25.000 Euro Ersparnisse, so Venticinque, haben sie alleine dadurch verloren, insgesamt etwa rund 38.000 Euro.
108.000 Euro werden ihnen an Wiederaufbauhilfe für die Sanierung bewilligt. Sie rechnen. Ergebnis: „Damit kommen wir nicht hin.“ Aber sie wollen es versuchen. Mit viel Eigenleistung. Ins Baustoffspendenlager nach Erftstadt will der Bruder zunächst aber nicht. „Anderen geht's noch schlechter. Ich habe doch ein Bett“, habe er gesagt. Als er sich überreden lässt, ist der erste Besuch ein Desaster: „Sie sind als Schwarzköppe bezeichnet worden. Dass sie die Sachen nur weiterverkaufen wollen.“ Als sich ein Helfer des Lagers die Lage vor Ort anschaut, ist eine Entschuldigung fällig.
Es ist Frühjahr 2022, es kommt Bewegung in die Sache: Der Kontakt zu Sabine und Hans Mießeler entsteht. Zu den Dachzeltnomaden (DZN). Endlich gibt es fundierte Hilfe, endlich geht's voran, denken die Geschwister.
Doch der nächste Rückschlag kommt schnell: Einer der DZN-Helfer äußert den Verdacht, dass das Haus womöglich nicht zu halten ist. Baugutachter Wilfried Körfer und Statikerin Silke Hensen versuchen zwar alles, doch es ist aussichtslos. „Was erzählt die Frau da? Das Haus soll weg? Das war wie ein ganz schlechter Traum“, schildert Venticinque ihre Gedanken, als Hensen ihnen die Nachricht überbrachte. Alle Anträge und Sanierungspläne wandern in die Mülltonne. Es ist klar: Es wird alles viel, viel länger dauern. Und viel teurer.
Doch sie sind nicht alleine. Die Helfer geben nicht auf. Architekt Thorsten Oellers geht mit an Bord, entwirft ein neues Zuhause. Statikerin Hensen tüftelt am Abriss des Hauses, der in der Reihenhaus-Bebauung der Straße nicht ganz einfach ist. Heimatministerin Ina Scharrenbach wird mit ins Boot geholt. Sie sieht die Ruine bei einem ihrer Gemünd-Besuche. Sichert zu, dass die Familie einen neuen Wiederaufbauantrag stellen darf. Die Familie hat nun verlässliche Partner an ihrer Seite.
Die Prioritäten haben sich für Valbone Venticinque verschoben
Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft, sagt Venticinque, haben die Eltern vorgelebt. Durch die Katastrophe seien die Geschwister noch enger zusammengerückt: „Wir haben uns im tiefsten Loch Kraft gegeben.“
Daraus resultiert auch der Plan, an gleicher Stelle in Gemünd ein neues Haus zu bauen, in dem sie mit Mann und Kindern oben und ihr Bruder Haxhia unten leben. Warum wollen sie dort bleiben? „Es ist das Einzige, was uns von unseren Eltern geblieben ist. Dieser Ort, das Grundstück.“
Auf die Hoffnung folgt gleich der nächste Rückschlag
Valbone Venticinque muss nicht lange überlegen, was sie sich fürs neue Jahr wünscht: Ruhe. Einfach nur Ruhe. Ja, auch Gesundheit, natürlich. Bei ihr ist nach der Flut eine seltene Autoimmunkrankheit ausgebrochen. Eine daraus resultierende Infektion hat sie fast ein Bein gekostet. Ein weiterer Wunsch? Dass es mit dem Haus weitergeht.
Kurz vor Weihnachten hat sie tatsächlich optimistisch sein dürfen: Die Pläne für den Abriss des alten und den Bau des neuen Hauses sind fertig, ebenso der Antrag auf Wiederaufbauhilfe. Alles hätte nur noch abgeschickt werden müssen.
Doch die Hoffnung, dass es bald endlich losgehen kann, zerschlägt sich: Nach einem Hangrutsch hinter dem Haus ist alles gestoppt. In den kommenden Wochen müssen Experten klären, ob und wie der Hang befestigt werden kann, ob und wie dort überhaupt gebaut werden darf. Auf Ruhe muss Valbone Venticinque weiter warten.
Die Familie musste aus dem Kosovo flüchten
Anfang der 1990er-Jahre leben Raze und Shaban Delija mit ihren sechs Kindern – die jüngste Tochter noch ein Baby – in Zahaq im Kosovo. „Es hat uns an nichts gefehlt“, sagt Valbone Venticinque: „Wir hatten ein Haus, Papa hat in Belgrad gearbeitet.“
Das Leben der Familie Delija ist gut. Bis zu dem Tag, als der Krieg im damaligen Jugoslawien auch zu ihnen kommt. Als die Serben ihren Vater aufgreifen. Zunächst, so Venticinque, hätten sie es bei ihrem Großvater versucht, doch der habe sich geweigert, ihnen seine Jagdwaffen auszuhändigen. Also sei ihr Vater in der nahen Stadt Peja mehrere Stunden verhört und aufgefordert worden, ein serbisches Kommando in seinem Heimatort, in dem zu der Zeit je zur Hälfte Serben und Kosovaren leben, zu übernehmen.
Für die Serben soll er seine kosovarischen Landsleute, seine Freunde und Nachbarn schlimmstenfalls umbringen? Das sei für ihren Vater undenkbar gewesen. Er habe sich geweigert. Er sei mit einem Ultimatum, sich doch zu beugen, und der Drohung, dass man sein Haus dem Erdboden gleichmache, falls er es nicht tue, entlassen worden.
Mit seinem Chef in Belgrad habe der Vater sich daraufhin beraten. Und dessen Einschätzung sei sehr deutlich gewesen: „Mach, dass du wegkommst!“ Für die Flucht habe der Chef der Familie einen Transporter gebracht. „Nur mit den Klamotten, die wir am Leib hatten“, so Venticinque, habe sich die Familie nachts auf den Weg in Richtung Deutschland gemacht.
Arbeit zu finden, war in Deutschland das erste Ziel der Eltern
Sechs Wochen, so Venticinque, habe die Familie zunächst bei einer Tante in Erlangen Unterschlupf gefunden – und erfahren, dass ihr Haus in Zahaq nicht mehr steht, dass die Serben ihre Drohung wahr gemacht haben. Der Weg führt die Familie über Köln in die Eifel, zunächst nach Lessenich, dann nach Satzvey, dann nach Roggendorf.
In ärmlichen Verhältnissen habe die Familie zunächst gelebt. Arbeit zu finden sei das erste Ziel ihrer Eltern gewesen. Der Vater arbeitet zunächst als Lastwagen-Fahrer bei der Firma SZ Sander in Obergartzem, danach fährt er viele Jahre Geldtransporte der Post. Rund acht Jahre betreibt er die Minigolf-Anlage im Gemünder Kurpark: „Das war seine Herzenssache“, sagt die Tochter. Die Mutter hat im Restaurant Zagreb in Roggendorf gearbeitet.
Im Jahr 2000 haben die Eltern sich das Haus an der Neustraße kaufen können, sie fühlen sich dort wohl. In Gemünd leben Valbone Venticinque und ihr Bruder Haxhia Delija heute noch. Die anderen Geschwister wohnen in Frauenberg, in Düren, Aachen und Kamp-Lintfort.