Ein Jahr nach der Hochwasser-Katastrophe mit verheerenden Folgen vor allem für die Eifel, den Rhein-Erft-Kreis und das Ahrtal haben wir im Sommer 2022 zurückgeblickt.
Mithilfe von Expertinnen, Experten und vielen Daten haben wir rekonstruiert, wie die Juli-Flut 2021 entstand, wieso es sich so lange hielt und was dieses Wetterereignis von anderen Unwettern in der Vergangenheit unterscheidet.
Neben dem Wiederaufbau und die Hilfe für die Opfer der Flut geht nun auch darum, wie Menschen künftig besser geschützt werden können.
Dieser Text ist erstmals am 14. Juli 2022 veröffentlicht worden.
Mitte Juli 2021 ist das Wetter in Irland gut. Während die „Irish Independent“, eine der größten Zeitungen des Landes auf ihrer Titelseite über die Reisebeschränkungen für den Sommer im Covid-geplagten Europa informieren, beschert ein Hochdruckgebiet den Dublinern nach einigen kühlen Tagen endlich wieder Temperaturen über 21 Grad Celsius. Die Welt wird klein, wenn man sich die Satellitenbilder vom 11. bis zum 15. Juli anschaut: Das gute Wetter, dass in Irland die Familien an den Strand oder in die Gärten lockt, ist Teil der imposanten Kausalkette, an deren Ende mehr als 170 Menschen in Deutschland sterben.
Am 14. Juli jährt sich die verheerende Flut, die Teile von NRW und Rheinland-Pfalz verwüstete, zum ersten Mal. Mithilfe von Expertinnen, Experten und vielen Daten haben wir rekonstruiert, wie das Unwetter entstand, wieso es sich so lange hielt und was dieses Wetterereignis von anderen Unwettern in der Vergangenheit unterscheidet.
Vor der Juliflut: Atlantik-Hoch zieht nach Osten
Das Hoch, das den Iren nach einigen kühlen Tagen um den 10. Juli endlich wieder sommerliche Temperaturen brachte, lag zu Beginn des Monats noch weit draußen über dem Atlantik. Expertinnen und Experten des „Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology“ (CEDIM), angesiedelt am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), beschreiben in einem 2021 veröffentlichten Bericht, wie das Hoch über den Atlantik an der irischen Südküste entlang nach Osten zieht. „Auf der Vorderseite“ des Hochs sinkt der Luftdruck – über dem Mittelmeer bildet sich das Tiefdruckgebiet, das Deutschland später als „Bernd“ kennenlernt.
„Hoch und Tiefdruckgebiete entstehen durch unterschiedliche Temperaturen. Die Atmosphäre versucht, diese Unterschiede auszugleichen“, erklärt Andreas Friedrich vom Deutschen Wetterdienst. Von einem Hoch spricht man, wenn der Luftdruck in einem Gebiet höher ist, als in den umgebenden Luftmassen. Grundsätzlich steigt warme Luft auf, kalte Luft fällt in Richtung Erdoberfläche. Ein Hochdruckgebiet entsteht dann, wenn sich kältere Luftmassen über wärmere schieben. Die unteren Luftschichten erwärmen sich und wollen nach oben steigen, von dort drückt aber die kalte Luft nach unten. Schließlich strömt die warme Luft nach außen, die kalte sinkt nach unten und wird ebenfalls aufgewärmt. Bei diesem Prozess wird Luftfeuchtigkeit in den oberen Luftschichten abgebaut und Wolken lösen sich auf - das Wetter wird (subjektiv) besser.
Wie entsteht ein Tiefdruckgebiet?
Tiefdruckgebiete wiederum entstehen, wenn die warme Luft, die dem hohen Luftdruck eben noch gewichen ist, aufsteigt. Der Luftdruck in Bodennähe nimmt ab und die Luft wird auf dem Weg in die höheren Schichten kühler. „Wenn warme, feuchte Luft aufsteigt und sich abkühlt, bilden sich Wolken. So entsteht dann das Wetter, das wir von Tiefdruckgebieten kennen“, so Friedrich. Schieben sich die so abgekühlten Massen dann wieder über wärmere Luft, entsteht ein neues Hochdruckgebiet und so weiter. Diese Verschiebung der Luftmassen wird beeinflusst von Luftströmungen wie etwa den Jetstreams oder auch der Erdrotation. „Wenn sich die Erde nicht drehen würde, hätten wir am Boden immer kalte Luft, und oben immer warme, eine feste Zirkulation. Zum Glück dreht sich die Erde aber und ist ja auch geneigt, sodass die Luftmassen abgelenkt werden und beginnen zu rotieren“, erklärt Friedrich. Auf der Nordhalbkugel drehen sich Hochdruckgebiete gegen den Uhrzeigersinn, Tiefdruckgebiete mit dem Uhrzeigersinn. Diese Bewegung zusammen mit den Jetstreams, Luftströmungen in 10 Kilometern Höhe schieben die Luftmassen über den Globus.
Der Deutsche Wetterdienst warnt bereits am 12. Juli vor schweren Gewittern und Regen (unter anderem auf seinem Youtube-Kanal). Zu diesem Zeitpunkt schiebt sich Bernd gerade vom Mittelmeer in Richtung Deutschland. Ab dem 13. Juli hängen die Wolken über Süddeutschland und beginnen schon, sich zu entladen – Teile von Nordbayern und Sachsen melden Starkregen und erste Überschwemmungen. Aber Bernd bleibt nicht hier stehen: Getrieben vom Atlantik-Hoch und der eigenen Rotation schiebt sich das Tief in einem Bogen über Ost- und Norddeutschland in Richtung Westen. Am 14. Juli ziehen die Gewitter-Wolken auf, die innerhalb von etwa 16 Stunden den meisten Regen über Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz bis nach Luxemburg bringen werden.
In der Flutnacht: Wassermassen und Überschwemmungen
Was dann passiert, wissen die Menschen in der Region vermutlich besser, als jeder Bericht es darstellen kann. In der Nacht vom 13. auf den 14. Juli 2021 regnet es Wassermassen. Flüsse und Bäche treten in der Nacht und den Tagen danach über die Ufer, Häuser werden überschwemmt und zerstört, hunderte Menschen sterben, hunderte mehr noch werden verletzt, verlieren teilweise Häuser, Erinnerungsstücke, Haustiere.
Der Regen erreicht die Messstation in Köln-Stammheim gegen 4 Uhr morgens am 14. Juli, schreibt das CEDIM. 150 Millimeter Niederschlagshöhe in 15 Stunden werden hier verzeichnet, das entspricht 150 Liter Wasser pro Quadratmeter. Zum Vergleich: Nimmt man alle Daten von 1981 bis 2010 an dieser Messstelle und berechnet durchschnittlich, wie viel Regen in einem Monat fällt, kommt man auf 69 Millimeter für den gesamten Juli. Innerhalb von 15 Stunden stürzte also mehr als das doppelte des Monatsniederschlags aus den Wolken über Köln.
Rheinland-Pfalz: Ahr überflutet das nahegelegene Tal
Dabei ist Stammheim zwar die Station, die den meisten Niederschlag vom 13. bis zum 14. Juli verzeichnet, aber vor allem kleinere Städte und Gemeinden werden vom Wasser schlimmer mitgenommen als die Hochwasser-erprobte Millionenstadt. Im Rheinland-Pfälzischen Ahrtahl tritt die Ahr so weit über die Ufer wie nur zweimal zuvor in den vergangenen 220 Jahren. Der Pegelrekord für den kleinen Fluss liegt bei 3,71 Metern, gemessen in 2016. in Altenahr bedeutet das, dass etwa 236 Kubikmeter Wasser pro Sekunde an der Messstation vorbei fließen. Dann kommt Bernd.
In der Flutnacht steigt der Pegel auf bis zu 10 Meter – genau lässt sich das nicht sagen, denn der Pegelmesser bricht gegen 19.15 Uhr am Abend ab, die Wassermassen sind einfach zu groß. Zu diesem Zeitpunkt steht die Ahr bei etwas mehr als 5 Metern, 332 Kubikmeter Wasser pro Sekunde fließen durch den Fluss. Das sind 332.000 Liter pro Sekunde. Die Expertinnen und Experten des CEDIM schätzen 2021, dass zum Höhepunkt des Hochwassers der sogenannte Abfluss auf 400 bis 700 Kubikmeter pro Sekunde steigt. Inzwischen ist klar, dass er sogar noch stärker gewesen sein muss: Aktuelle Rekonstruktionen gehen von 900 bis 1300 Kubikmetern pro Sekunde aus.
Historische Hochwasser in Altenahr
In der Geschichte von Altenahr gibt es zwei Hochwasser mit vergleichbaren Ausmaßen. 1804 vermuten Historiker einen Abfluss von bis zu 1210 Kubikmeter pro Sekunde. Wie hoch der Pegel hier war, lässt sich heute nicht mehr sagen. Vor 2021 war das zweithöchste Hochwasser der Ahr von 1910, hier stieg sie auf etwa 5 Meter an. Seit Beginn der Messaufzeichnungen 2016 war wie oben erwähnt 2016 das Rekordjahr mit einem Abfluss von 236 Kubikmetern pro Sekunde, zuvor wurden 1993 213 Kubikmeter pro Sekunde gemessen. Entsprechend wurden die Pegelmessstationen hier nur für einen maximalen Abfluss von 300 Kubikmeter pro Sekunde eingerichtet. War die Stadt also nicht ausreichend auf das Hochwasser vorbereitet?
Das Umweltamt des Landes Rheinland-Pfalz berechnet wie alle Länder die Risiken für Hochwasser und Überschwemmungen an ihren Flüssen und Gewässern. Expertinnen und Experten werten bisher vorhandene Messdaten aus und berechnen statistische Wahrscheinlichkeiten für verschiedene Überschwemmungs-Ereignisse. Alle zwei Jahre etwa rechnet das Land für die Ahr mit einem Abfluss von 93,5 Kubikmetern pro Sekunde, alle 50 Jahre mit 212 Kubikmetern pro Sekunde. Ein Hochwasser so stark und unwahrscheinlich, dass es nur etwa einmal alle 100 Jahre vorkommt, soll demnach 241 Kubikmeter Wasser pro Sekunde mit sich bringen. Die Juli-Flut übertraf diesen Wert deutlich.
Gebäude mehr als 200 Meter vom Fluss entfernt zerstört
Ein Grund hierfür ist die Basis, auf der die Wahrscheinlichkeiten berechnet werden. Diese schließt nämlich nur Werte ab 1947 (dem Beginn der systematischen Messaufzeichnungen) mit ein. Die beiden Hochwasser von 1804 und 1910 wurden nicht mitberechnet. Frühe Warnungen des Landkreis Ahrweiler mahnten Anwohnerinnen und Anwohner in einem Abstand von 50 Metern zu Ahr, ihre Wohnungen zu verlassen. Letztendlich wurden aber selbst Gebäude, die mehr als 200 Meter vom Flussbett entfernt standen, vom Wasser erreicht und teilweise zerstört. Im Landkreis Ahrweiler starben 122 Menschen, 763 wurden verletzt.
Einer der Faktoren, die Tief „Bernd“ und die Unwetter so dramatisch machten, ist laut CEDIM die sogenannte „Persistenz“ der Wetterlage. Das heißt, Hoch- oder Tiefdruckgebiete bleiben lange auf einem Fleck oder bewegen sich nur langsam. Dementsprechend geht bei Unwettern mehr Regen auf einer kleineren Fläche nieder. Die Autorinnen und Autoren sehen bei dieser Tendenz der vergangenen Jahre einen Zusammenhang zur globalen Erwärmung.
Deutscher Wetterdienst verzeichnet kontinuierlichen Temperaturanstieg
Hoch- und Tiefdruckgebiete, sowie Luftmassen werden unter anderem von Starkwindströmungen wie dem Jetstream bewegt. Diese Strömung entsteht durch Temperaturunterschiede zwischen heißen Gebieten der Erde, also den Tropen, und den kältesten Gebieten der Erde, also etwa dem Nordpol. Mit der Erwärmung der Erde steigen die Temperaturen am Pol aber schneller als in den Tropen. Der Unterschied wird kleiner und die Strömung schwächer.
Und apropos Erderwärmung: Der Deutsche Wetterdienst untersucht regelmäßig die Durchschnittstemperatur in Deutschland. Seit 1881 verzeichnet der DWD einen Temperaturanstieg von etwa 1,6 Grad Kelvin. Pro Grad, die sich ein Bereich in unseren Breitengraden erwärmt, steigt der Anteil des Wasserdampf in der Atmosphäre um etwa 7 Prozent. Bei 1,6 Grad (Kelvin oder Celsius, das ist in diesem Fall gleichbedeutend) mehr macht das 11,5 Prozent mehr verdunstetes Wasser in der Luft. Feuchte Luft bildet dann mehr Wolken, unter denen die Luft weiter abkühlt: Mehr Wasser kondensiert und es regnet. Auch die Nord- und Ostsee erwärmen sich immer mehr – eine zusätzliche Quelle für verdunstetes Wasser in der Luft.
Hohes Gefahrenpotential für künftige Wetterlagen
„Die Kombination aus mehr verfügbarem Wasser in der Atmosphäre und einer zunehmenden Persistenz der Wetterlagen birgt sehr hohes Gefahrenpotential. Da für beide Faktoren ein positiver Trend zu erwarten ist, wird auch das Potential für extreme Niederschlagsereignisse in Zukunft zunehmen“, schreiben die CEDIM-Autorinnen und Autoren in ihrem Bericht.
Als sich ab dem 16. Juli Bernds Gewitterwolken endlich auflösen, starten in NRW und Rheinland-Pfalz die Rettungs- und Aufräumarbeiten. Während in Irland weiter die Sonne scheint, werden sich Nachbarn zusammenschließen, freiwillige Helferinnen und Helfer die Reihen der Katastrophenschützerinnen und -schützer unterstützen. Tausende Tonnen Schutt und Dreck werden weggeräumt, ein paar Erinnerungsstücke aus den Trümmern gefischt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden Daten zusammentragen und nachvollziehen, wie sich alles so entwickeln konnte. Prognosen werden angepasst, Datenreihen erweitert. Um besser vorbereitet zu sein, für das nächste Jahrhundert-Unwetter.
Unsere besten Texte 2022 – dieser Text ist erstmals am 14. Juli 2022 veröffentlicht worden.