Er galt bundesweit als der Shooting-Star der Grünen, doch dann schlug der Euskirchener Arvid Bell einen anderen Weg ein – und hat es nicht bereut.
Statt Karriere in BerlinFrüherer „Shooting-Star“ der Grünen lehrt jetzt an US-Elite-Uni Harvard
Vielleicht wäre er schon Minister, vielleicht Staatssekretär oder Chef einer Fraktion. So um 2010 herum hatten viele in Berlin Arvid Bell auf dem Zettel, wenn es darum ging, das künftige politische Spitzenpersonal zu benennen.
Für das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ war Bell damals ein „Shooting Star“, „Die Zeit“ interviewte ihn seitenlang als Nachwuchstalent. Mitte 20 war er damals und hatte es nach vier Jahren im Euskirchener Stadtrat in den Bundesparteirat der Grünen geschafft – als einziger Ehrenamtlicher neben 15 Spitzenpolitikern.
Nun sitzt Bell im Café Kramer in Euskirchen zum Gespräch mit dieser Zeitung. Inzwischen ist er 39. Bell ist auf der Durchreise, schaut für ein paar Tage in seiner alten Heimat vorbei, auf dem Weg von Kasachstan nach New York. Seine Karriere hat längst Fahrt aufgenommen. Nicht als Politiker, aber als Politikwissenschaftler. Nicht in Berlin, aber in New York und in Cambridge, genauer gesagt in Harvard.
An der renommierten Universität hat Bell seinen Master gemacht, ermöglicht durch ein Stipendium. „Unsere Familie hätte sich das nicht leisten können“, sagt er. Knapp 60.000 Dollar ruft die Privatuni jährlich an Studiengebühren auf.
Arvid Bell: Sein Studium in Harvard war nur mit einem Stipendium möglich
Heute sichern diese Einnahmen sein Gehalt. Denn Dr. Arvid Bell aus Kuchenheim ist heute Lehrbeauftragter in Harvard. Seit mehr als zehn Jahren lebt er in den USA.
Der möglichen Politikerkarriere trauere er nicht nach, versichert er: „Ich bin glücklich.“ Das Politikerleben sei schon knüppelhart: „Die allermeisten Abgeordneten in den demokratischen Parteien strengen sich an, arbeiten 70 Stunden pro Woche, rennen von Termin zu Termin, wollen konkrete Dinge im Land verbessern.“
Auch wenn Populisten das Gegenteil behaupteten – ausgerechnet sie, die gemeinhin die fachlich-sachliche Kernarbeit scheuten und ihr Hauptaugenmerk auf möglichst öffentlichkeitswirksame Auftritte legten, so der 39-Jährige. Das spalte.
Wohin das führen könne, sehe er täglich in den USA. „Kürzlich habe ich nach Jahren mal wieder ,Anne Will‘ gesehen“, erzählt Bell: „Da schaffen es Menschen mit unterschiedlichen Meinungen tatsächlich, sich nicht nach spätestens zwei Minuten anzubrüllen.“
So hasserfüllt sei die politische Debatte nämlich leider in weiten Teilen der USA. Von dort aus blicke er heute auf Deutschland, wie er früher von Deutschland aus auf Schweden geblickt habe, sagt Bell schmunzelnd: „Das wirkt hier alles so sozial, aufgeräumt und gemeinwohlorientiert. Es kommt halt immer auf die Referenzgröße an.“
So schätzt Arvid Bell die Wahlchancen von Donald Trump ein
Da drängt sich eine Frage geradezu auf. Wird Trump erneut Präsident, Herr Bell? Der 39-Jährige denkt kurz nach: „Ich schätze, dass er knapp verliert, sicher bin ich mir aber auch nicht.“
Trotz allem fühle er sich in den USA wohl: privat ohnehin, aber auch dieses motivierende „Mach einfach“ selbst bei verrückten Ideen gefalle ihm. Die Vielfalt, die Intensität, das ständige neu Entdecken und neu Erfinden. Das treffe er in Europa nicht so an.
Seine Herkunft kann er aber nicht leugnen. Die großen Auftritte trotz des klangvollen Namens seines Arbeitgebers meide er. Ohnehin gehöre er nicht zu den Wissenschaftlern, die sich allzu sehr mit einem Standpunkt in eins der Meinungsteams begeben, etwa pro oder contra Waffenlieferungen.
„Ich sehe meinen Schwerpunkt auf Analyse“, sagt er. These anstatt eines festgelegten Standpunkts, den es dann auf Dauer in Medien zu verteidigen gelte. Diese Einstellung mache es ihm leichter, die gewonnenen Ansichten zu hinterfragen oder, wenn nötig, auch mal zu ändern. Das sei schließlich der Sinn von Wissenschaft.
So erlebten die Kreis Euskirchener Grünen auch keinen Lehrmeister, als sie im Mai per Zoom mit ihrem früheren Weggefährten über den Atlantik hinweg die politische Weltlage erörterten – und die Ukraine-Politik der Bundesregierung unter Mitwirkung der Grünen.
Bell: Politik des Westens ist keine Entschuldigung für Putins Krieg
„Ich nehme in der deutschen Debatte ein Schwarz-Weiß-Denken wahr“, sagte Bell damals und wiederholt es nun im Café. Denn der Krieg sei nicht zu erklären, ohne zu betrachten, wie sich das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland seit den 1990er-Jahren in verschiedenen Schüben verschlechtert habe.
Dazu gehörten das zunehmend repressive System und die imperialen außenpolitischen Designs mit einem zunehmend isolierten russischen Präsidenten ebenso wie Entscheidungen zur Nato-Osterweiterung. „Ich bin mir sicher, wenn Historiker darüber schreiben werden, werden sie alle diese Aspekte berücksichtigen – und diese Nuancen fehlen meiner Meinung nach in der Debatte.“
Wer nun aber meint, Wagenknecht-Töne zu vernehmen, liegt ziemlich falsch. „Solche Argumentationen hören meistens damit auf, dass der böse Westen auf einmal an allem schuld ist“, sagt der frühere Kuchenheimer.
Nein, stellt er klar, niemand habe Putin gezwungen, in die Ukraine einzumarschieren. Fehler des Westens seien auch „keine Entschuldigung dafür, einen souveränen Staat zu überfallen: Putin ist der Aggressor; die Ukraine ist im Recht, sich militärisch zu wehren. Es ist auch legitim für andere Staaten, einen überfallenen Staat militärisch zu unterstützen“.
Arvid Bell: Sahra Wagenknecht macht es sich zu einfach
Waffenlieferungen alleine allerdings brächten keinen Frieden. Wegen solcher Dilemmata liege ein Schwerpunkt seiner Forschung auf konkreten Verhandlungsstrategien, die in verfahrenen Konfliktsituationen einen Weg zur Deeskalation ebnen können.
Mit derart differenzierten Überlegungen überwindet man nur schwerlich die Algorithmen bei X (vormals Twitter). „Darum bin ich da auch nicht drin“, sagt Bell. Für 30-Sekunden-Statements eignen sich solche Gedanken ebenfalls nicht. Vielleicht kann er auch deshalb ganz gut damit leben, kein Politiker geblieben zu sein.
Dennoch will Bell sich nicht im Elfenbeinturm verstecken. Er schreibt Gastbeiträge für Zeitungen und trifft mit seiner Firma, Negotiation Design & Strategy (NDS), die er mit einem Freund gegründet hat, auf die harte Realität vor Ort.
„Wir bereiten Firmen, Organisatoren und Militärs auf komplexe Verhandlungen vor“, sagt er. Denn ob kleinere privatwirtschaftliche Deals oder große Friedensverhandlungen, es werde zunehmend wichtiger, die Gedankenwelt des Gegenübers und dessen kulturellen Hintergrund zu kennen. Wobei Verstehen nicht Verständnis heißen müsse.
Der Politikerkarriere trauert der Kuchenheimer nicht nach
„Aber ohne einen Einblick in die kulturellen Hintergründe etwa der Israelis oder Palästinenser wird niemand von außen einen Beitrag zum Frieden leisten können“, erläutert Bell den Sinn seiner Arbeit. Vermittler bräuchten die Akzeptanz beider Seiten.
Dafür ist er viel unterwegs: in der Ukraine, im Nahen Osten, in Armenien, Kasachstan, oder in Südostasien – seine Reiseziele klingen wie eine Aufzählung der Konfliktherde auf dem Planeten. Hat er keine Angst? „Wir sind immer mit Einheimischen oder Beschäftigten von lokalen Organisationen unterwegs. Die kennen sich aus“, beruhigt der 39-Jährige.
Das Reisen bewahre ihn auch vor Abstumpfung. Davor, vor lauter wissenschaftlicher Auseinandersetzung die Opfer und die Gewalt zu verdrängen. Andererseits: Wie schützt er sich davor, diese Dinge zu nah an sich heranzulassen? Bell blickt nachdenklich durchs Café. „Eine Kollegin“, erzählt er, „widmet sich dem Thema Vergewaltigungen als Kriegswaffe. Es ist wichtig, dass sie das macht, aber ich weiß nicht, wie sie das emotional schafft.“
Vier Jahre lang saß Polittalent Arvid Bell im Euskirchener Stadtrat
Sein Ansatz sei zum Glück positiver: „Ich versuche, durch Analyse und Beratung von Verhandlungsprozessen meinen kleinen Beitrag zur Lösung von Konflikten beizutragen.“ Zudem treffe er immer wieder Personen, die ihn darin bestärkten, dass die allermeisten Menschen nichts Böses im Schilde führten und trotz schlimmster Erlebnisse „es schaffen, Mensch zu bleiben“, sagt Arvid Bell.
Er erzählt von drei jungen Frauen, die er in Kabul kennenlernte: „Sie lachten viel und verstanden sich gut. Später stellte sich heraus: Die eine war Paschtunin, eine Hazara und die dritte Tadschikin. Aber diese ethnischen Gegensätze waren diesen jungen Afghaninnen viel weniger wichtig als den Taliban oder den Milizenführern. Solche Nuancen helfen, hoffnungsvoll zu bleiben und Lichtblicke zu sehen.“
So endet das Gespräch, in dem es viel um Kriege und Konflikte ging, doch nicht ganz hoffnungslos. Bell muss dann auch los, sein letzter Abend in Euskirchen. „Ich treffe mich mit ein paar Freunden zum Doppelkopf“, sagt er. Am nächsten Tag geht es mit dem Zug zum Frankfurter Flughafen, von dort nach New York. Von seiner alten Heimat in seine neue Heimat.
Bonn, Kuchenheim, Frankfurt, Harvard – das sind Arvid Bells Stationen
Am 27. August 1984 wurde Arvid Bell in Bonn geboren. Nach dem Einser-Abitur an der Marienschule pendelte er zwischen der Freien Universität Berlin und dem Pariser Institut d'études politiques, und arbeitete an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt.
Dank seiner guten Noten und seines gesellschaftlichen Engagements erhielt er ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, das ihm das Studium in Harvard ermöglichte. Dort machte er innerhalb von zwei Jahren seinen Master in Verwaltungswissenschaften (Public Policy), kam zur Promotion nach Frankfurt am Main zurück, um dann wiederum als Gastforscher in die USA zurückzukehren. Seit 2019 ist er Lehrbeauftragter in Harvard.
Bell gehört seit 2001 den Grünen an, ist aber wegen der Ferne zu Deutschland nur inaktives Mitglied.