Eine deutsche Grundschule, 15 ukrainische Kinder und eine ukrainische Lehrerin: Im Klassenzimmer mit den Geflüchteten ein Jahr nach Kriegsbeginn.
Ein Jahr KriegWie ukrainische Kinder in Leichlingen und Burscheid leben
Lisa tippt auf ein Tablet mit bunter Hülle. Sie zieht das Foto einer Turnhallen-Matte auf den zum Substantiv passenden Artikel: Die Verbindung „eine Matte“ leuchtet grün auf. Die Viertklässlerin geht seit April auf die Katholische Grundschule Kirchstraße in Leichlingen.
Vor einem Jahr ist sie mit ihrer Mutter aus der Ukraine geflohen, nachdem Russland am 25. Februar 2022 den Krieg gegen ihr Land begonnen hatte. Heute sitzt Lisa mit drei weiteren Klassenkameraden in der Leichlinger Schule. Sie lernen eifrig Deutsch, während ihre Väter und Brüder im Krieg kämpfen müssen.
Insgesamt 15 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine besuchen seit März 2022 die Grundschule Kirchstraße. Für die Kinder und Lehrkräfte ist das eine Herausforderung, die sie mit Kreativität und etwas Glück gemeistert haben. Für Lisa waren schon die Buchstaben neu, weil das Ukrainische eine Variante des kyrillischen und nicht lateinischen Alphabets benutzt. Damit die Kinder schnell auf das Level ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler kommen konnten, erhalten sie bei zwei Lehrerinnen Förderunterricht.
Ukrainische Lehrerin unterrichtet an Leichlinger Grundschule
Seit März hilft eine eigentlich pensionierte Lehrerin an der Schule aus. Die Leichlingerin Regina Meller unterrichtete an der Sekundarschule und zu ihren Fächern zählt Deutsch als Fremdsprache. Sie sorgt dafür, dass die Kinder nicht nur mit Tablets Deutsch lernen. „Es war die größte Herausforderung, dass keiner die Sprache des anderen konnte“, sagt Meller.
Meller tauscht sich eng mit ihrer neuen Kollegin Luidmyla Yurchuk aus. Yurchuk ist einer der Glücksfälle an der Kirchstraße für die Kinder. „Wir geben sie nicht mehr her“, sagt Schulleitern Gabriele Berger über die Lehrerin, die selbst aus der Ukraine geflohen ist.
Yurchuk unterrichtete 29 Jahre Mathematik und Physik in ihrer Heimat im Norden des Landes, 120 Kilometer von Kiew entfernt. Im März 2022 kam sie mit ihrer 16-jährigen Tochter nach Leichlingen.
Als Schulleiterin Berger von Yurchuk erfuhr, setzte sich für ihre Einstellung durch das Schulamt ein. Seitdem sei die Ukrainerin wie eine Mutter für die Kinder, sagt Berger, „gerade am Anfang war sie ganz wichtig als Bezugsperson“. Sie unterrichtet sie in Ukrainisch, damit die Schülerinnen und Schüler, sollten sie zurück in ihre Heimat gehen, dort auch wieder zur Schule gehen könnten.
Und sie übersetzt, wann immer Berger oder die Lehrkräfte ihre Hilfe brauchen oder nimmt Anrufe der ukrainischen Eltern an. „Ich helfe den Kindern, sich einzugewöhnen“, sagt die Ukrainerin. Dafür lehrt Yurchuk nicht nur Ukrainisch, sie lernt auch selbst Deutsch. Nachmittags vier Stunden in der Sprachschule, danach abends für sich zu Hause.
Ein weiterer Glücksfall, wie Berger es nennt, kam vergangenes Jahr als Praktikant zur Kirchstraße. Der angehende Lehrer hat Wurzeln in Kasachstan, konnte also zumindest Russisch sprechen, was die ukrainischen Kinder und Eltern auch verstehen, und fungierte als Dolmetscher bis Yurchuk angestellt wurde und Deutsch lernte. „Er hat uns am Anfang gerettet“, sagt Berger.
Lehrer improvisieren mit Übersetzer-App für ukrainische Kinder
Mittlerweile übersetzen die Kinder viel selbst. Lisa hat die Aufgaben der Tablet-App „Sag's auf Deutsch“ schon fertig gelöst. Ihre Förderstunde mit Regina Meller und Luidmyla Yurchuk ist zu Ende. Lisa geht mit den drei weiteren ukrainischen Kindern wieder in den normalen Unterricht.
Ihr Klassenlehrer ist Konrektor Bernd Sielemann, es ist Mathe-Stunde. Mathe und Sport sind Lisas Lieblingsfächer. Da ist auch die Sprachbarriere kein Problem.
Sielemann hat die vier an unterschiedliche Tischgruppen gesetzt und die Mitschülerinnen und Mitschüler erklären die Aufgaben, wenn sie die nicht verstehen. Er versucht, den Unterricht möglichst praktisch zu gestalten, dann können alle mitmachen. Braucht Sielemann doch einmal längere Texte, übersetzt er sie per App und spielt die ukrainische Version des Arbeitsblatts auf die digitale Tafel im Klassenraum.
Während Lisa in ihre vierte Klasse zurückkehrte, wechselte auch Luidmyla Yurchuk den Raum, um in der ersten Klasse von Lehrerin Miriam von Niswandt zu helfen. Ihre Schülerinnen und Schüler beugen sich über Lernhefte. Sie müssen fehlende Buchstaben in Wörtern ergänzen.
Zerplatzende Luftballons schockieren ukrainische Kinder
Wie Sielemann muss auch von Niswandt improvisieren. Sie hat einen Trick für ihre Sechsjährigen entdeckt: Der Bookii-Hörstift mit Lautsprecher liest die Wörter vor, über die man ihn fahren lässt. „Die Salate“ tönt es mit Roboterstimme leise aus einer Ecke des Klassenraums. Der kleine ukrainische Schüler, der den Stift hält, weiß nun, welche Buchstaben in dem Wort in seinem Heft fehlen.
Zwischen den Erfolgen gibt es aber auch Momente, die schmerzlich aufzeigen, was die ukrainischen Kinder durchgemacht haben. In der Pause im Lehrerzimmer erzählt Bernd Sielemann, dass er an Karneval Luftballon-Zertreten mit seiner Klasse spielen wollte. Immer wieder knallte es laut – und die ukrainischen Schülerinnen sind in Tränen ausgebrochen. Zu viele grauenvolle Erinnerungen seien für die ukrainischen Schülerinnen hochgekommen.
Die Vier unterscheidet auch von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, dass sie immer ein Handy dabei haben. „Wenn es klingelt, sind die Kinder in Habachtstellung“, sagt Sielemann. Denn dann kommen Nachrichten von den Familien an der Front. Sie wissen nie, ob gute oder schlechte.
Ukrainische Kinder auch an der Burscheider Montanusschule
In Burscheid macht Schulleiterin Claudia Zimmermann an der Montanus-Grundschule ähnliche Erfahrungen. Zehn ukrainische Kinder sind hier über die Jahrgangsstufen verteilt. Auch Zimmermann setzt auf die Integration in den gewohnten Klassenunterricht. „Sie hören den ganzen Tag nur Deutsch, Deutsch, Deutsch“, sagt die Lehrerin, das zahle sich aus, „die Kinder saugen ganz viel auf.“ Sie hatte das Glück, schon eine Lehrerin an ihrer Schule zu haben, die Deutsch als Fremdsprache unterrichten kann.
Sie sagt, die Kinder kämen schon hochgebildet her und brächten viel mehr digitales Vorwissen mit, als ihre deutschen Mitschüler. Einige gehen nach den Sommerferien sogar aufs Gymnasium. Dafür haben Studierende, die über zwei Projektstellen der Bezirksregierung angestellt wurden, mit den Kindern viel gelernt.
Und es mache einen Unterschied, ob die Eltern planten, zu bleiben, oder darauf warteten, schnell wieder zurück in die Ukraine zu kehren. Zimmermann beobachte, dass Kinder je nachdem motivierter seien, in der Schule mitzumachen. „Man muss wirklich kreativ werden“, sagt die Schulleiterin, und müsse einzeln fragen: „Was braucht das Kind?“ Sie alle haben Fluchterfahrungen und Traumata.