Den Erinnerungsort für die Zwangsarbeitenden der Bayer AG hat der finnische Künstler Jussi Ängeslevä konzipiert. Er sprach zuvor exklusiv mit dem „Leverkusener Anzeiger“.
ErinnerungsortWie ein Künstler das Leid der Zwangsarbeitenden bei Bayer visualisiert
Jussi Ängeslevä ist Künstler aus Finnland und arbeitet dort mit einem ganzen Team im Studio „Art & Com“. Er sagt: „Wir alle waren sehr inspiriert von dieser Aufgabe. Von der Tragweite. Gerade, weil wir jetzt einen historischen Blick haben mussten.“ Ängeslevä hatte von der Bayer AG den Auftrag bekommen, einen Erinnerungsort zu schaffen. Einen Ort, der das Schicksal der vielen Tausend Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aufgreift, die im Zweiten Weltkrieg in den Fabriken von den IG Farben, deren Teil Bayer damals war, schuften mussten. Am Montag wurde der Ort eröffnet.
Normalerweise arbeiten Ängeslevä und sein Team mit aktuellen Daten, visualisieren diese und mache daraus dann generative Skulpturen. „Aber jetzt hatte ich plötzlich Datensätze von damals. Datensätze etwa über die Altersverteilung, den Anfang und das Ende der Zwangsarbeit jedes einzelnen betroffenen Menschen, ihre Herkunftsländer – bis hin zu ganz persönlichen Informationen über ihr Leben.“
Daten in Formen übersetzt
Ängeslevä sammelte diese Daten, übersetzte sie mit Hilfe von Computertechnik in Formen. Und daraus entstand ein verspiegeltes Edelstahlgerüst sowie eine komplexe Holzkonstruktion, die daran hängt. Dank des Verspiegelns fällt der Blick im Wechsel auf den alten und den neuen Konzernsitz im direkten Umfeld des Erinnerungsortes und verknüpft somit Vergangenheit und Gegenwart.
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Das Gerüst wird stehenbleiben. Die Holzkonstruktion wird sich über die Jahre verändern, da natürliche Stoffe – neben verschiedenen Holzarten auch Pflanzen, Pilze, Gewürze, Pflanzensamen – eingearbeitet wurden. „Das, was dort passiert und wächst und womöglich abfallen wird, ist quasi out of control – und regt genau dadurch zur Reflexion an“, sagt Ängeslevä. Die Konstruktion besteht unter anderem aus dem Holz der Nationalbäume jener Länder, aus denen die Zwangsarbeitenden kamen.
Das Stahlgerüst der Kunstwerkes wiederum verweist auf die Himmelsrichtungen, in denen alle vier Chemiewerke als Orte der Zwangsarbeit lagen. Nicht nur das in Leverkusen, sondern eben auch Elberfeld, Uerdingen und Dormgen. „Das war uns wichtig“, sagt Matthias Berninger, Leiter des Bereichs Öffentlichkeit und Nachhaltigkeit der Bayer AG. Die Flächengröße der einzelnen Teile steht im Verhältnis zu den Mengen von Zwangsarbeitenden in den jeweiligen Werken.
Menschlicher Bezug im Fokus
„Ich habe viele Akten gelesen“, erinnert sich Ängeslevä an die Zeit der Konzeption, „und einfach aus meinem Bauchgefühl heraus etwas ausgewählt, das irgendeinen menschlichen Bezug hatte. Es geht schließlich um persönliche Schicksale.“ Zudem wurde am Aufstellort eine Time-Laps-Kamera montiert. Sie läuft ab dem Eröffnungsdatum auf unbestimmte Zeit, kann per QR-Code übers Handy angesteuert werden – und zeigt in einem über die Jahre stets umfassender werdenden Zeitraffer, wie sich das Kunstwerk und die eingearbeiteten Naturstoffe verändern werden. Ein starkes Symbol für das Leben, das wächst und sich verändert. Zudem weist diese digitale Komponente des gut fünf Meter hohen Kunstwerkes in die Zukunft.
Ängeslevä betont diesbezüglich noch einmal: „Die Daten und ihre Bedeutung ist unglaublich metaphorisch. Eine Holzart beispielsweise als Referenz zu den Ursprungsländern der Zwangsarbeitenden zu nehmen – ich glaube, das spüren die Menschen. Sie spüren, dass da etwas anders ist, das nicht Zufall sein kann. Sie werden sich fragen: Was bedeutet das?“
Werner Baumann, scheidender Vorstandsvorsitzender der Bayer AG, sieht die Einrichtung des Erinnerungsortes als einen „bedeutenden Schritt im Umgang mit unserer moralischen Ebene“. Dass dieser noch in seinen letzten Tagen als Vorstandsvorsitzender erfolge, bedeute ihm sehr viel, denn: „Auch ich bin diesbezüglich nicht frühzeitig genug verantwortlich mit meiner Führungsposition umgegangen.“ Oberbürgermeister Uwe Richrath betont am Eröffnungstag: „Dieses Kunstwerk steht dafür, dass wir aus der Geschichte lernen. Es steht für Demokratie und Miteinander. Und es ist eine vollkommene Bereicherung für diese Stadt.“
Ein Mahnmal hätte früher kommen müssen
Und warum ist es am Ende ein Kunstwerk geworden, das an dieses dunkle, unbedingt aufzuarbeitenden Kapitel der Konzerngeschichte erinnert – und kein Mahnmal?
Thomas Helfrich, Chef der Bayer-Kultur, sagt: „Ein Mahnmal hätte viel früher kommen müssen. Auch ein Denkmal. Ich empfinde das, was wir nun haben, aber auch tatsächlich gar nicht mal als Kunstwerk, sondern als wesentlich mehr. Das ist für mich eine andere Reflexionsstufe.“ Denn das, war Ängeslevä und sein Team auszeichne, sei ja die Fähigkeit, nicht nur künstlerisch oder technisch zu denken. „Nein: Da arbeiten auch Soziologen und Psychologen. Sprich: Es ist ein multidisziplinärer Ansatz. Und der macht Themen greifbar.“
www.memorial.bayer.com