Ausverkauftes Konzert in LeverkusenWolfgang Niedecken liefert zum Finale der Jazztage
Leverkusen – Um Punkt 23 Uhr steht fest: Er ist hergekommen. Und er hat geliefert. Aber sowas von. Wolfgang Niedecken hat – die kleine Pause mit eingerechnet – den Menschen im ausverkauften Erholungshaus zum Abschluss der 42. Leverkusener Jazztage nicht weniger als drei Stunden lang eine Zeit beschert, die gut und somit genau der Gegensatz zum dem war, was derzeit draußen in der Welt so vor sich geht. Und das mit den einfachsten Mitteln, die vorstellbar sind: Mit einer Gitarre, dem famosen Pianisten Mike Herting als Sidekick, einem Buch und Geschichten – oder besser: Verzällcher – rund um die Musik und sein Musikerdasein.
Natürlich: Der Aufhänger dieses Auftrittes ist Bob Dylan. Der relevanteste noch lebende Musikkünstler unserer Zeit, der Niedecken seit den 60ern beeinflusst, als der seine Songs in Köln bei Mittagstisch-Zivildienstfahrten im Auto rauf und runter hörte und mit dem Zivildienstkollegen dabei ebenso rauf und runter diskutierte. Wolfgang Niedecken hat darüber zuletzt ein Buch geschrieben, in dem er von einer Reise durch die USA auf den Spuren Dylans berichtet. Das ist heute Dreh- und Angelpunkt der drei Bühnenstunden.
Verdamp lange her
Indes: Rund um diese Reise durch Amerika erzählt der Mann, der als Gründer und bis heute einzige Konstante von BAP die deutsch-, oder besser kölschsprachige Rockmusik prägte, eben auch verdammt viel von sich selbst, das mitunter schon verdammt lang her ist. Und das vor allem vieles gleichzeitig ist: eine kölsche Autobiografie, ein Abriss in Musikhistorie, ein Plädoyer für die Kunst – und hier und da eine kleine Sozialstudie über Köln, New York, New Orleans, Woodstock.
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Und dass Wolfgang Niedecken mittlerweile 70 ist, führt ganz und gar nicht dazu, dass er nun an einem Abend wie diesem als Märchenonkel daherkommt und dort vorne auf der Bühne am Tisch sitzt, sich ab und an die Gitarre greift und darauf herumspielt. Im Gegenteil: Diese gute Unrast, die ernstzunehmenden, weil leidenschaftlichen Künstlern zu eigen ist, flirrt 180 Minuten lang durch den Raum. Und Märchenonkel fühlen keine Unrast. Sie sind behäbig und gemütlich und selbstzufrieden. All das also, was Wolfgang Niedecken nicht ist.
Er singt Dylan mal im Original, mal op Kölsch. Wühlt sich so durch „The times they are a-changin’“ und „Like a rolling stone“, das für BAP einst zu „Wie ’ne Stein“ wurde. „Girl from the north country“ ist jetzt der großartige Melancholiebrocken „Wo der Nordwind weht“. Das Epos der Selbstreflexion „My back pages“ heißt in Niedeckens Südstadt-Sproch „Vill passiert sickher“.
Anekdoten von Dylan
Bei „Quinn the Eskimo“ singt das Publikum den „Come all without, come all within“-Refrain mit und klatscht dazu. Wolfgang Niedecken genießt das. Liest die nächste Passage aus seinem Buch. Erzählt die nächste Anekdote rund um BAP. Stopft den nach Monaten ohne Konzerte leeren Seelen-Säckel der Menschen mit Erlebtem und Erfahrenem und Emotionalem. Berichtet von Dylans schlaffem Händedruck beim Treffen vor Jahren. Von grandiosen Konzerten des Meisters. Und von miesen, die dessen an der Severinstraße aufgewachsener Jünger trotzdem bis zum Ende schaute, „weil ich ja auch nicht das Stadion verlasse, wenn der glorreiche 1.FC Köln wider Erwarten mal zur Halbzeit unaufholbar zurückliegt“ - was als charmanter Seitenhieb auf den Verein der Jazztagestadt zu verstehen ist und einem Zuschauer den ebenso charmant gemeinten, halb laut gesprochenen Satz „Pass’ auf, wo Du hier bist“ entlockt.
Am Ende steht erstens das Gefühl, dass da vorne jemand noch einmal alles geben wollte, ehe die Veranstaltungen womöglich wieder weniger und kleiner werden und erneut Existenzen auf dem Spiel stehen – Wolfgang Niedecken ruft den Leuten denn auch zu: „Sagt den entsprechenden Menschen da draußen bitte, dass sie sich impfen lassen sollen!“ und beweist mit dieser für ihn bekannten Offenheit, wie sehr er sich seiner Verantwortung als Künstler bewusst ist. Und es steht zweitens eine volle Packung aus allem: Aus Folk, Jazz, Lesestunde, Plauderrunde, Gedankenreise, Musik- und Geschichtsseminar sowie einem heimeligen Zusammensein, bei dem man unter und ganz bei sich ist. Man könnte auch sagen: Dat es Famillich. Und die kann nicht jeder heraufbeschwören. Wolfgang Niedecken schon.