Leverkusen – Die Zahl der Kirchenaustritte in Leverkusen ist stark angestiegen. Am Ende des Jahres 2022 wird aller Voraussicht nach ein Rekordwert erreicht, zeigen aktuelle Zahlen des Amtsgerichts, die dem „Leverkusener Anzeiger“ vorliegen.
Kirchenaustritte Leverkusen: Steigerung um zwölf Prozent
1504 Leverkusenerinnen und Leverkusener haben ihre Kirche in den ersten neun Monaten dieses Jahres verlassen – 983 waren zuvor römisch-katholisch, 521 evangelisch. Im Vorjahr lag die Zahl der Kirchenaustritte im Stadtgebiet zum gleichen Zeitpunkt bei 1346. Der Anstieg beträgt demnach fast zwölf Prozent. Ende 2021 waren insgesamt 1745 Menschen aus ihrer Kirche ausgetreten – 1189 aus der katholischen, 556 aus der evangelischen.
Es müssten in Leverkusen also deutlich weniger Menschen im vierten Quartal aus der Kirche austreten, damit ein Rekordwert verfehlt wird. Entschieden sich genauso viele Personen wie im Vorjahresquartal zu diesem Schritt, wären 2022 am Ende 1903 Menschen nicht mehr Teil der katholischen oder evangelischen Kirche.
2020 waren die Austrittszahlen stark rückläufig. In den Daten ist allerdings klar erkennbar: Das hatte seine Ursache in den Corona-Restriktionen, im April 2020 gab es pro Kirche einen Austritt, im Mai nicht einen einzigen. Nur 987 Menschen traten in jenem Jahr aus der evangelischen oder katholischen Kirche aus.
2019 waren es noch 1214 gewesen – 711 katholisch, 503 evangelisch. Frühere Daten sind so schnell vom Amtsgericht Leverkusen nicht zu bekommen, denn bis 2018 wurden die Statistiken nur in Schriftform geführt, nicht aber in Computern. Und die Papierbelege über diese Zeit liegen im Archiv im Keller des Opladener Amtsgerichts.
„Ich bin traurig über jeden Einzelnen, der geht“, sagt Heinz-Peter Teller, als Stadtdechant Leverkusens oberster katholischer Pfarrer, im Gespräch mit dem „Leverkusener Anzeiger“: „Ich sehe die Stapel von Briefen, die bei uns ankommen. Viele sind entwöhnt, haben wenig Kontakt mit der Kirche. Da ist der Schritt auszutreten, für viele eine Konsequenz und ein kleiner Schritt.“
Kirchenaustritte: Erzbischof Woelki namentlich genannt
Was zu den Ursachen bekannt sei? „Gerade in der letzten Zeit nennen viele die Situation im Erzbistum Köln, den Umgang mit Missbrauchsfällen, viele führen auch namentlich unseren Kardinal (Kölns Erzbischof Rainer Maria Woelki, Anm. d. Red.) als Grund an“, sagt Teller. Die steigende Zahl der Austritte sei darüber hinaus Ausdruck der allgemein großen Krise alter Institutionen.
Er sei keinem böse, sagt der Opladener Pfarrer: „Ich bedauere das sehr, aber es muss jeder selbst entscheiden. Ich werbe immer für den Wiedereintritt. Aber auch wer ausgetreten ist, ist in der Gemeinde herzlich willkommen und wird nicht verstoßen. Ich fühle mich nach wie vor verantwortlich und den Leuten verbunden.“
Auch Bernd-Ekkehart Scholten gehen die Zahlen nah, der Superintendent des evangelischen Kirchenkreises Leverkusen empfinde sie als „bedrängend“, bekennt er. „Für mich sind das nicht Zahlen. Das sind Menschen“, sagt Scholten. „Jeder Austritt tut weh und jeder Mensch fehlt uns in der Gemeinschaft.“
Auch Scholten, der bis vor wenigen Jahren 25 Jahre lang Gemeindepfarrer war, führt Missbrauchsfälle als eine Ursache an – gleichwohl sie in der öffentlichen Diskussion vor allem mit der katholischen Kirche in Verbindung stehen: „Missbrauchsfälle haben das Vertrauen vieler Menschen erschüttert“, sagt Scholten. Und zwar das Vertrauen in die Institution Kirche, das Thema sei nicht konfessionell gebunden.
Scholten: Kirchensteuer sparen ist nicht das stärkste Motiv
Ursächlich sei jedoch auch „ein Prozess von Kontaktverlust, in dem es zu einer Entfremdung und Entfernung kommt“, meint der Geistliche. Dass Menschen die Kirchensteuer sparen wollten, sei dabei eher untergeordnet: „Das finanzielle ist nicht das stärkste Motiv“, sagt Scholten.
Für die Kirche gehe es deshalb darum, die Menschen in Freude- und Leidsituationen zu erreichen, als Kirche etwas mit ihrem Leben zu tun zu haben, eine persönliche Relevanz zu gewinnen. Strukturell sei die evangelische Kirche da schon gut aufgestellt: „Es gibt Frauen im Pfarramt, Trauungen für alle Ehepaare, eine Kirche mit synodaler Struktur, die von unten nach oben aufgebaut ist.“ Mit aktuellen Unterstützungsangeboten wie „#Wärmewinter“ oder auch während der Hochphase der Corona-Pandemie, als die Kirche Einkäufe für Risikogruppe organisierte, bewege sie sich mitten im Leben der Menschen. Es brauche aber auch einen Kontakt zu den Menschen, um ihnen überhaupt zu sagen, was Kirche bietet.
Dass es irgendwann gar keine Katholiken oder Protestanten mehr in Leverkusen gibt, ist unvorstellbar – doch sie machen nicht mehr den Großteil der Ende Juni 2022 168.028 Menschen zählenden Bevölkerung aus. 53.930 Leverkusenerinnen und Leverkusener – 32,1 Prozent – sind römisch-katholisch, teilt die Verwaltung auf Anfrage des „Leverkusener Anzeiger“ mit. 28.163 – 16,8 Prozent – sind evangelisch. 51,1 Prozent der Bevölkerung haben hingegen eine andere Konfession oder überhaupt keine.
Bernd-Ekkehart Scholten nimmt gegenüber diesen Zahlen eine optimistische Position ein: „Es gibt noch immer viele Menschen, die in den beiden großen Kirchen Halt erfahren. Menschen, für die Kirche und Glauben eine Kraftquelle für das Leben sind.“