Bergisch Gladbach – „Ich bin wie eine Maschine, die langsam herunterfährt“, sagt Dr. Jürgen Freund. Dass jemand sein Sterben so technisch beschreibt, wirkt schockierend im ersten Augenblick. Doch der Kürtener ist Ingenieur, hat als wissenschaftlicher Berater in der Gesellschaft für Sicherheit in der Kerntechnik gearbeitet und in der Reaktorsicherheitskommission gesessen. „Ich war im Innersten der Atomkraftwerke“, sagt der 81-Jährige, „manchmal direkt über dem Reaktor. Ein seltsames Gefühl, ja, aber Angst habe ich nie gehabt.“
Vor etwas mehr als einem Jahr ist Darmkrebs bei ihm diagnostiziert worden, dann bildeten sich Metastasen in der Lunge. Die Chemotherapie hat ihn so geschwächt, dass er im September gestürzt ist und sich drei Wirbel gebrochen hat. „Ich war mir mit zwei Ärzten einig, dass wir das nicht mehr operieren.“ Damit war klar: „Ich komme nicht mehr auf die Beine, und die Krebserkrankung schreitet ebenfalls fort.“ Jetzt liegt Jürgen Freund auf der Palliativstation des Vinzenz-Pallotti-Hospitals und wartet auf den Tod.
Immer weniger Energie
Sein Geist ist klar, sein Verstand geschärft, er ist informiert, er diskutiert und argumentiert – zum Beispiel über die Energiewende, die er „hektisch und unsachlich“ nennt. Über den Klimawandel und die Überbevölkerung auf der Erde, die ihm viel mehr Sorge macht. „Ich habe mich gefreut auf die Herausforderung dieses Gesprächs“, fügt er hinzu.
Doch Gesicht und Hände sind abgemagert, und manchmal fällt es ihm schwer, sich zu konzentrieren. „Ich esse nicht mehr, seit ich hier bin“, erklärt der gebürtige Berliner. „Ich weiß gar nicht, ob ich das bewusst so entschieden habe. Aber ich empfinde kein Bedürfnis danach, habe eher Widerwillen.“ Er wird verhungern! Freund nickt, zeigt mit dem Daumen nach unten und lächelt fatalistisch: „Mein Körper nimmt immer weniger Energie auf und wird von Tag zu Tag schwächer.“
Mit geradezu wissenschaftlicher Neugier beobachtet der Palliativpatient diesen Prozess, fast wie ein Experiment am eigenen Leib. „Was ist Sterben?“, sinniert er und sein Blick verliert sich durch die Terrassentür in den regennassen Park. „Irgendwann verabschiedet sich das Bewusstsein“, ist er sicher. „Den Zeitpunkt des Todes werde ich nicht mitbekommen. Es wird ganz friedlich sein.“ Wann es soweit sein wird? „Es ist ja auch eine komische Sache, hier herumzuliegen und zu warten“, gibt Freund zu. „Der Tag vergeht. Für mich besteht keine Aufgabe mehr. Ich bin 81 Jahre alt. Warum soll ich noch weiterleben?“
Weshalb unterzieht sich ein Mann mit einer solchen Haltung dieser Prozedur? Hat er nie daran gedacht, seinen Arzt um die berühmte „Pille“ zu bitten, auf ein schnelles Ende? „Sollte ich?“, fragt er zurück. „Ich liege doch hier gemütlich, freue mich am Blick ins Grüne, empfange Besuch, es ist was los . . .“ Es gehe ihm gut, seit er keine Chemo mehr bekommt. „Ich schlafe viel, und wenn der Rücken wehtut, kriege ich eine Schmerzspritze.“ Er würde sich auch dann nicht umbringen, wenn Dr. Dirk Hennesser, sein behandelnder Arzt auf der Station, ihm dabei helfen dürfte – was standesrechtlich verboten ist.
Paul Falk, Initiator der Spendenaktion „Hits fürs Hospiz“: „Jeder sollte selber über sein Leben entscheiden, wenn er schwerstkrank ist. Das Problem ist nur: Wenn jemand unheilbar krank ist, kann er unter Umständen dieses Recht nicht mehr aktiv in Anspruch nehmen. Er ist ein Gefangener seiner selbst. Auch die Palliativmedizin ist da keine Lösung: Sie verspricht zwar Schmerzfreiheit, aber in der Praxis wird ihr Einsatz dem Arzt wegen der hohen Kosten bei einem Kassenpatienten oft nicht zugestanden. Dass man in einer solchen Situation die Sterbehilfe durch einen Arzt in Anspruch nehmen kann, würde ich sofort unterschreiben.“
Wolfgang Bosbach, Bundestagsabgeordneter: „Dies ist eine höchst persönliche Entscheidung. In einer solchen Situation brauchen die Betroffenen in erster Linie Beistand. Sie nicht alleine zu lassen, das wäre die Aufgabe einer wirklich humanen Gesellschaft.“
David Roth, Trauerbegleiter: „Die Menschen haben Angst davor, qualvoll zu sterben. Diese Angst müssen wir ihnen nehmen. Die Palliativmedizin ist heute so weit, dass Menschen ohne Schmerzen und in Würde sterben können, ohne dass in diesen natürlichen Übergang von außen eingegriffen wird. Ich bin trotzdem dafür, dass jeder die Freiheit hat, über sein Ende selbst zu entscheiden. Anstatt endlos über Sterbehilfe zu streiten, wünsche ich mir, dass wir mehr darüber nachdenken, wie wir sterben wollen. Den eigenen Tod zu denken ist schwer, ich weiß. Aber wenn uns das gelingt, können wir mit dem Tod unbefangener umgehen.“
Für den engagierten Palliativmediziner käme aktive oder assistierte Sterbehilfe ohnehin nicht in Frage. „Das ist heutzutage überhaupt nicht nötig“, betont er. „Wir haben genügend Maßnahmen an der Hand, Menschen würdig in den Tod zu begleiten.“ Wenn alle Beteiligten einig seien, biete das – gesetzlich erlaubte – Unterlassen massiv lebensverlängernder Maßnahmen in Verbindung mit einer Schmerztherapie zahlreiche individuelle Möglichkeiten.
Unwissenheit, sagt er, sei die Wurzel der weit verbreiteten Angst, der Tod sei prinzipiell ein qualvoller Kampf. „Der Körper ist ja nicht blöd. Er wird schwächer und erlischt.“ „Vorher“, so Hennesser, „haben aber auch Sterbenskranke noch viele schöne Momente und Lebensqualität. Ich erlebe die Realität hier im Hospiz anders, als sie in den Talkshows dargestellt wird. Sterben auf Knopfdruck hat nichts mit einem friedlichen Tod zu tun.“
Das sieht auch Jürgen Freund so. „Wenn ich mir vorstelle, ich müsste Kontakt mit so einem Schweizer Verein aufnehmen, die lange Fahrt machen und jemandem zumuten, mir beim Selbstmord zur Hand zu gehen – das wäre der blanke Stress für mich“, sagt er. Hennesser geht noch weiter: „Wenn jemand sich selbst umbringt, ist das seine Sache. Aber die Gesellschaft oder der Arzt darf nicht dafür in Dienst genommen werden.“
Mit Hilfe von über 100 Ehrenamtlern bieten Organisationen im Rheinisch-Bergischen Kreis Palliativbetreuung an, als Tagespflege, ambulant oder stationär.
Die Brücke. Ambulantes Hospiz Bergisch Gladbach im Diakonischen Werk, Hauptstraße 341e, ☎ 02202/186 77 28
www.hospiz-diebruecke.de
Hospiz und Palliativstation im Vinzenz-Pallotti-Hospital, Vinzenz-Pallotti-Straße 20, 51429 Bergisch Gladbach-Moitzfeld, Tel. (0 22 04) 41-1160; Ambulantes Hospiz, Tel. (0 22 04) 41-1170
www.vph-bensberg.de
Ökumenischer Hospizdienst Rösrath, Volberg 4, Baumhofshaus, 51503 Rösrath-Hoffnungsthal, ☎ 02205/89 83 49
www.hospizdienst-roesrath.de
Omega, Regionalgruppe Bergisch Gladbach, Am Eichenkamp 7b, 51427 Bergisch Gladbach, ☎ 02204/6 88 13
www.omega-ev.de
Palliativnetzwerk Rhein-Bergwww.vdek.com
Würde, Selbstachtung, Autonomie: Das sind die drei Schlagworte, die bei den Befürwortern des Rechts auf Hilfe zur Selbsttötung immer wieder eine Rolle spielen. Jürgen Freund kann das verstehen. „Wer weiß, wenn ich jünger wäre und allein, mit der Aussicht, dass ich nichts mehr aus eigenen Kraft könnte – vielleicht würde ich dann auch nach dem Schierlingsbecher rufen“, gibt er zu. „Aber so kann ich mir doch wenigstens in Ruhe noch ein paar Gedanken machen.“
Vor 14 Tagen hat ihn ein alter Schulfreund aus Berlin besucht. „Er wollte mich davon überzeugen, dass es ein Leben nach dem Tod gibt und welche Vorteile es hat“, sagt Jürgen Freund und schmunzelt.
„Mal sehen.“