Dieser Text ist erstmals am 2. Juli 2022 veröffentlicht worden.
Aufgelöst und hilflos steht Margot Bäumerich am 21. Juni auf dem Bahnsteig in Leipzig – ein Rucksack auf dem Rücken, einer vor der Brust, eine Tasche in der Hand. „Unter Schock, wie benommen“, kommen ihr die Tränen, nachdem ein Schaffner sie aus dem Zug geworfen hat. Ganz allein, ohne Smartphone, das Ticket entwertet, weiß die 87-Jahre alte Gladbacherin nicht, wie sie weiter kommen soll.
Nach dem Besuch des Grabes ihres Mannes in Tschechien ist Margot Bäumerich zurück auf dem Weg nach Hause. Doch ein Zugbegleiter der Deutschen Bahn wirft sie aus dem Intercity, weil sie gegen die Maskenpflicht verstoßen hat. Der Versuch zu erklären, dass sie nur vergessen habe, den Mund-Nasenschutz aufzuziehen, kann ihn nicht umstimmen. Sie muss trotzdem aussteigen.
Margot Bäumerich kann die Unmenschlichkeit nicht verstehen
„Auch wenn es Regeln gibt, so geht man nicht mit Menschen um“, ist die frühere Lehrerin am Nicolaus-Cusanus-Gymnasium heute immer noch fassungslos über das herzlose Verhalten des Schaffners. Ihr stehen die Tränen in den Augen, wenn sie von dem Erlebnis berichtet: „Ich kann diese Unmenschlichkeit nicht verstehen“, sagt sie.
Als sie morgens in Dresden in den IC nach Köln steigt, ist sie immer noch emotional aufgewühlt. 2020 ist Hans Josef Bäumerich, ebenfalls ehemaliger Lehrer an der Gesamtschule Paffrath, auf dem Friedhof des tschechischen Lipová beigesetzt worden. In dem kleinen Ort in Nordböhmen, in der Nähe der Grenze zu Sachsen, ist Margot Bäumerich aufgewachsen. Jedes Jahr fährt sie dorthin.
Einfach nur vergessen, die Maske aufzusetzen
„Ich war in Trauer versunken in Gedanken an meinen Mann“, erinnert sich die Gladbacherin an den Moment, als der Zugbegleiter plötzlich vor ihr steht. Schon bevor der Schaffner sich die Fahrkarte zeigen lässt, habe er ungehalten reagiert, weil Margot Bäumerich keine Corona-Gesichtsmaske trägt. Der Ton sei laut, unerbittlich und angsteinflößend gewesen: „Dabei hatte ich doch nur vergessen, die Maske aufzusetzen. In Tschechien brauchte ich sie nicht.“ Sie sei keine Corona-Leugnerin. Vollkommen verunsichert – die 87-Jährige hört schlecht, sieht schlecht und hat Arthrose in den Händen – durchwühlt sie ihr Gepäck, findet die Maske aber nicht.
Der Kontrolleur, ein wohl schon älterer Mann, lässt sich nicht erweichen: „Entweder Sie finden die Maske jetzt oder Sie müssen aussteigen“, habe er im Befehlston gesagt. Bevor er Margot Bäumerich auffordert, den Zug in Leipzig zu verlassen, entwertet er das Bahnticket. Zu seiner Unterstützung holt er Polizisten, die im Zug mitfahren: „Sie waren jung und einfühlsam und halfen mir, meine Sachen wieder einzupacken“. Mit ihren unbeweglichen, schmerzenden Händen hätte sie das so schnell nicht geschafft. Die Seniorin glaubt, die Polizisten hätten Mitleid mit ihr gehabt. Als Margot Bäumerich anfängt zu weinen, gibt ihr eine Polizistin ein Taschentuch.
Deutsche Bahn will sich offiziell entschuldigen
Eine Bahnsprecherin räumt auf Nachfrage dieser Zeitung ein, dass in dem Fall „etwas schief gelaufen“ sei. Die Details zu dem von der Reisenden geschilderten Vorfall würden nun intern aufgearbeitet. „Wir werden uns bei der Kundin offiziell entschuldigen“, kündigt die Sprecherin an. Der Mitarbeiter habe zwar richtig gehandelt, als er die alte Dame darauf hingewiesen habe, dass in deutschen Zügen Maskenpflicht gelte: „Aber der Ton macht die Musik.“ Manche Zugbegleiter hätten eine zweite Maske dabei. Es habe sich ja wohl um keine Maskenverweigerin gehandelt.
„Unsere Mitarbeitenden sind dahingehend geschult, auch in schwierigen Situationen sensibel zu reagieren“, erläutert die Sprecherin. So traurig es sei, aber der Fauxpas helfe, mit den Mitarbeitenden zu reden: „So möchten wir als Gastgeber nicht mit unseren Reisenden umgehen“, betont die Bahnsprecherin.
Aufgelöst und hilflos steht die 87-Jährige auf dem Bahnsteig
Auf dem Bahnsteig in Leipzig erleidet Monika Bäumerich einen Nervenzusammenbruch: „Ich war unfähig, mich von der Stelle wegzubewegen.“ Dann sagt sie sich, „reiß Dich zusammen“ und spricht zwei Polizisten an. Die Beamten kümmern sich um die alte Dame: Erkundigen sich nach einer neuen Zugverbindung. Regeln, dass sie nicht noch einmal bezahlen muss. Bringen sie auf den richtigen Bahnsteig, geben ihr eine Maske mit und helfen ihr Stunden später mit dem Gepäck in den Zug nach Köln. Einer habe gesagt: „Sie stehen jetzt unter unserem Schutz.“ Margot Bäumerich ist sehr dankbar: „Allein hätte ich das nicht geschafft.“
Im Abteil verkriecht die Gladbacherin sich in eine Ecke, hält sich ihre Jacke vors Gesicht und stellt sich schlafend: „Damit mich keiner anspricht“, erzählt sie, „ich hatte so eine Angst vor einem neuen Streit um mein ungültiges Ticket.“ Als sie endlich nachts um 12 Uhr in Bergisch Gladbach ankommt, fällt sie fix und fertig ins Bett. Übrigens: Ihre Maske hat die 87-Jährige, als sie in dem neuen Zug sitzt, sofort in ihrer Handtasche gefunden.
Unsere besten Texte 2022 – dieser Text ist erstmals am 2. Juli 2022 veröffentlicht worden.