"Sterbendes" KnappsackAls das Gift vom Himmel fiel
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Das Luftbild von 1967, zwei Jahre vor Beginn der Umsiedlung, zeigt, dass die Wohnbebauung in Knapsack bis direkt vor die großindustriellen Anlagen reichte.
Copyright: Luftbild Lizenz
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Hürth-Berrenrath – Die Erinnerungen an die giftigen Wolken sind noch präsent. Die Auswirkungen des schnellen, schmutzigen Wachstums der Großindustrie in der unmittelbaren Nachbarschaft nicht vergessen. „Die Säure hat uns die Strümpfe an den Beinen zerfressen“, erinnert sich Renate Burger aus Berrenrath. Die Damen neben ihr am Stehtisch im Foyer des Berli-Kinos nicken zustimmend. „Genauso war das damals, und dieser Dreck, schrecklich. Aber trotzdem haben wir hier gerne gelebt“, betont Hildegard Jansen. Wieder zustimmendes Nicken.
Was bei den Damen um die 70 so lebhafte Erinnerungen hervorgerufen hat, war der Dokumentarfilm „Wolken über Knapsack“ von Jürgen Schröder-Jahn aus dem Jahr 1972. Am Sonntagvormittag zeigte ihn das Berrenrather Kino im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Nachbarschaftsdialog“. Eingeladen hatte wie immer der Betreiber des benachbarten Chemieparks, die Infraserv Knapsack.
„Wir hatten 120 Anmeldungen für heute“, freute sich Geschäftsleiter Dr. Clemens Mittelviefhaus zu Beginn der Veranstaltung. Jüngere und Ältere Knapsacker und Einwohner der benachbarten Hürther Ortsteile zeigten großes Interesse an dem 40 Jahre alten Film über das „sterbende“ Dorf Knapsack, das aufgrund der massiven Luftverschmutzung durch angrenzende Kohlekraftwerke und Chemieunternehmen aufgegeben wurde.
Damit war und ist Knapsack exemplarisch in ganz Deutschland. Die Dokumentation beschreibt die Lebensumstände der Menschen des Dorfes im Schatten der Industrie im Jahr 1971: meist hängt grauer Dunst über Häusern und Straßen, alles ist grau, Staub setzt sich auf alles und jeden, die Grenzwerte für Feinstaub sind um das Doppelte überschritten. 360 Kilogramm Staub fallen damals jeden Tag auf Knapsack, hinzu kommen unsichtbare Gase wie Fluorwasserstoff und Phosphorwasserstoff. Die Kinder werden inzwischen mit Bussen in Nachbarorte zur Schule gefahren, die meisten Geschäfte sind geschlossen, die Hälfte der ehemals gut 4000 Bewohner haben den trostlosen schmutzigen Ort verlassen. Die Verlegung des gesamten Dorfes scheint nur noch eine Frage der Zeit.
Doch einige Knapsacker stemmen sich verbissen gegen den Tod ihrer Heimatgemeinde. Lautstark verteidigen die beim Feierabendbier ihr Knapsack. Es sind vor allem die Industriearbeiter, die in günstigen Werkswohnungen leben. Für sie gebe außerhalb Knapsacks keine adäquaten Wohnungen, sagen sie. Und auch die Werksleitung sieht keine Veranlassung, die Arbeiter aus dem verpesteten Ort herauszuholen. Vielmehr seien es immer die Anderen, die die Umwelt verschmutzten, darin sind sich die damaligen Vorstände von RWE, Degussa und der Knapsack AG einig. Schließlich hätten sie bereits Filter eingebaut. Doch der Exodus Knapsacks war nicht mehr aufzuhalten, der Ort wurde – deutschlandweit einmalig – wegen der Luftverschmutzung verlegt.
Und was zeigt der Himmel über Knapsack und dem Chemiepark heute? Höchstens noch Schäfchenwolken, wenn man Dr. Mittelviefhaus Glauben möchte. Bis auf die hin und wieder geräuschvoll zündende Sicherheitsflamme sei die Belastung für die Anwohner heute gering. Das bestätigen auch die Kinobesucher am Sonntag. „Im Gegensatz zu früher ist das heute natürlich viel besser“, so die einhellige Meinung. „Zentimeterdick lag damals der Kohlenstaub auf der Fensterbank“, erinnert sich eine ältere Dame. Und Wäsche hätte man längst nicht immer heraushängen können, wenn sie sauber bleiben sollte.
„Während der Fußball-WM 1974 hat es irgendwann mal einen solchen Knall gegeben, dass hier viele Scheiben zu Bruch gegangen sind“, weiß der 45-jährige Jürgen Simon aus Alt Hürth noch heute genau. So sei das damals gewesen. Aber schließlich hätte die Industrie ja auch für Arbeit gesorgt, dessen waren und sind sich die Einwohner der Region bewusst. Und schließlich habe es auch positive Seiten an Knapsack gegeben, betont Hildegard Jansen, wie zum Beispiel das rege Vereinsleben. „Es war auch sehr schön in Knapsack.“