Julian Z. ist durch einen Angriff körperlich angeschlagen und psychisch schwer traumatisiert. In dieser Zeit ist das ganze Dorf für ihn da.
„Das ist mein zweites Leben“Angriff an Karneval – Geschädigter aus Kerpen spricht über schweres Trauma

Assistenzhündin Holly soll dem schwer traumatisierten Julian Z., der anonym bleiben möchte, im Alltag helfen.
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Er war in zahlreichen Kriegs- und Krisengebieten im Nahen Osten, auf dem Balkan und in Afrika stationiert. Trotz der Gefahren, derer sich der Berufssoldat Julian Z. dabei aussetzte, widerfuhr ihm ausgerechnet in seinem Wohnort im Kerpener Stadtgebiet der wohl erschütterndste Moment seines Lebens: „Karneval 2024 schlug wohl jemand mit einem Bierglas mehrmals auf mich ein“, sagt der 38-Jährige.
Er sage bewusst „wohl“, denn genau erinnere er sich nicht an die Tat. Sicher wisse er nur, dass ihm der Täter mit einem Bierglas über den Kopf geschlagen habe. Das splitternde Glas habe sich tief in seine Gesichtshaut geschnitten.
Kerpen: Julian Z. lebt mit großflächigen Narben
Bis heute trägt Julian Z. Narben, die über dem Ohr anfangen und sich bis zum Hals ziehen. Doch nicht nur mit den äußerlichen Folgen muss der Berufssoldat kämpfen: „Ich leide seitdem an einer posttraumatischen Belastungsstörung, habe schwere Depressionen und eine Angststörung entwickelt.“
Rausgehen, unter Menschen sein, Hobbys und Veranstaltungen – all das, was für andere zur Freizeit dazugehört, war für Julian Z. auf einen Schlag nicht mehr möglich. Der Angriff war mehr als eine oberflächliche Verletzung. Der mutmaßliche Täter stach bis in die Seele von Julian Z. So tief, dass er auch das Leben des Geschädigten entzwei riss.

Julian Z. trägt ein Hörgerät. Der Angriff hat zudem tiefe Narben hinterlassen.
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„Ich war früher kein Kind von Traurigkeit und sehr gesellig. Im Ort sind wir tief verwurzelt, obwohl wir erst seit ein paar Jahren hier wohnen. Meine Frau und ich haben uns viel engagiert, auch ehrenamtlich, wir sind bei der Freiwilligen Feuerwehr“, erinnert er sich: „Ich will dort wieder mitmachen, aber ich kann nicht. Blaulicht – wenn ich das nur sehe. Ganz schlimm. Oder der Geruch von Desinfektionsmittel, all das wirft mich zurück zu diesem Abend.“
Wie er am Tag des Angriffs ins Krankenhaus kam, wisse er nur aus Erzählungen. „Ich bin nach der Attacke wohl einer Bekannten in die Arme gestolpert. Die fragte mich, wo das ganze Blut plötzlich herkommt“, berichtet er. Er müsse einen eigenartigen Anblick abgegeben haben, sagt Julian Z. Immerhin war er verkleidet und blutüberströmt gewesen.
Berufssoldat verlor durch die Attacke beinahe sein Leben
Die Bekannte habe ihn zum Rettungswagen gebracht. „Ich weiß noch, wie ich gegenüber den Sanitätern behauptet habe, es ginge schon und ich würde jetzt nach Hause gehen. Im nächsten Moment bin ich durch den Blutverlust umgekippt“, erzählt der 38-Jährige.
Der Weg zum Krankenhaus, die Wundversorgung – all das seien lediglich Erinnerungsfetzen, bis heute. „Ich weiß noch, ich liege im RTW, ich gucke nach oben. Die Sanitäterin war an diesem Abend als Cruella de Ville verkleidet. Ich sehe dieses schwarz-weiß geschminkte Gesicht. Jemand drückt mir auf den Hals und schreit nach Bandagen. Oder Drainagen.“ Julian Z. stockt: „‚Wir brauchen Drainagen, wir brauchen Drainagen.‘ Das hat sie die ganze Zeit geschrien. Und: „‚Du stirbst mir hier nicht weg‘.“
Dann habe er das Bewusstsein verloren. Als er zu sich gekommen sei, habe ihm jemand gesagt: „Tief einatmen“. „Ich habe zweimal eingeatmet, dann wurde mir ganz kalt und ich war wieder weg“, erinnert sich Julian Z. Beim nächsten Aufwachen habe seine Frau verweint an seinem Krankenhausbett gesessen, mit ihrer besten Freundin. „Ich habe gefragt, was passiert ist. An die Antwort erinnere ich mich nicht“, erklärt er.
Aber Jennifer Z. erinnert sich. „Julian ist rausgegangen, ich war bei den Feuerwehrkollegen“, erzählt sie: „Irgendwann kam ein Kind von der Jugendfeuerwehr auf mich zu und sagte: Jenny, Jenny, du musst schnell rauskommen, dem Julian ist etwas passiert. Erst habe ich das überhaupt nicht verstanden.“
Ich habe dann im Nachhinein erfahren, dass zu meiner Freundin gesagt wurde: ‚Du musst auf die Jenny aufpassen, es sieht nicht gut aus. Womöglich ist ein Transport ins Krankenhaus nicht mehr nötig‘.
Die Anwesenden des Roten Kreuzes hätten ihr erst gar nicht gesagt, was geschehen sei. „Die haben natürlich den Notarzt alarmiert und dann kam der Rettungswagen der Stadt. Die standen gefühlt ewig da. Ich habe mich nicht näher herangetraut aus Angst, im Weg zu stehen“, berichtet Jennifer Z.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hätten die Sanitäter ihren Mann stabilisiert und ins Krankenhaus gebracht. „Ich habe dann im Nachhinein erfahren, dass zu meiner Freundin gesagt wurde: ‚Du musst auf die Jenny aufpassen, es sieht nicht gut aus. Womöglich ist ein Transport ins Krankenhaus nicht mehr nötig‘.“
Zum ersten Mal wiedergesehen habe sie ihren Mann im Krankenhaus. „Er ist ständig kurz wach geworden und hat gefragt: ‚Was ist denn passiert? Wir haben doch nur Karneval gefeiert‘. Ich konnte darauf keine Antwort geben. Niemand von uns konnte sich erklären, warum Julian angegriffen wurde. Jeder, der ihn kennt, weiß, was für ein offener, freundlicher Mensch er ist. Er würde nie mit Absicht irgendwas provozieren“, sagt seine Frau.
Gefesselt an das eigene Haus: Julian Z. lenkt sich mit Sport ab
„Jetzt habe ich nur noch meine Familie, vier Stunden Arbeit am Tag im Home Office und den Sport“, sagt der 38-Jährige. All das gebe ihm Halt. Schon früher habe er sich körperlich viel betätigt. Seine Art, abzuschalten und sich wieder zu erden. Doch gleichzeitig sagt er: „Wenn ich rausgehe und jemand kommt mir auf der Straße entgegen, ist da sofort wieder die Panik. Wer ist das, sieht er dem mutmaßlichen Täter ähnlich, geht von dem eine Gefahr aus?“ Die Angst verfolge ihn bei jedem Schritt.
Einkaufen oder Autofahren sei mit enormem Stress verbunden. Hinzu komme die Depression, die ihm an manchen Tagen die Kraft raube, überhaupt aus dem Bett aufzustehen. „Wenn ich aufwache, schaue ich immer erst, was ist heute für ein Tag?“, erklärt Julian Z: „Wie geht es mir heute? Kann ich aufstehen? Kann ich rausgehen? Oder denke ich wieder daran, zu sterben?“

Holly ist ein wenig schüchtern. Aber schon bald soll sie Julian Z. durchs Leben begleiten.
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Wenn alles ganz still sei, höre er die Musik wieder. „Da spielt immer wieder irgendwas in meinem Kopf, von wegen ‚Echte Kölsche stehen zusammen‘. Immer und immer wieder, in Dauerschleife. Dieses Lied, das lief, als das passiert ist“, erinnert sich Julian Z. Genau erinnern kann er sich nicht an den Titel. Vermutlich handelt es sich dabei um „Echte Fründe“ von den Höhnern.
Neben den psychischen Folgen leidet Julian Z. bis heute unter einer tauben Gesichtshälfte und trägt ein Hörgerät. Tinnitus und Schlafprobleme gehören zu seinem Alltag. Trinken könne er nur mit Strohhalm, weil sich die Taubheit auch auf seinen Mundwinkel auswirke.
Trotz alldem hat sich Julian Z. nicht aufgegeben. „Ganz im Gegenteil. Ich sehe das als meine zweite Chance. Mein zweites Leben“, sagt er. In dieser schweren Zeit habe seine Frau Jennifer Z. ihn aufgefangen. Während des Gesprächs sitzt sie bei ihm. Wenn er über die Attacke spricht und anfängt, zu zittern, legt sie ihm eine Hand auf sein Knie. Er atmet ein paar Mal tief durch, schaut durch den Raum. Das Zittern endet.
Seine zweite Chance will Julian Z. nicht ungenutzt lassen. Doch noch schränken ihn seine Ängste und psychischen Probleme stark ein. Ein Assistenzhund soll hier Abhilfe schaffen.
„Ja, da wären wir bei Holly“, sagt Julian Z. und sofort erhellt sich sein Gesicht. Plötzlich ist da kein Zittern mehr, sondern ein selbstbewusster junger Mann. „Ich bin wegen des Vorfalls natürlich in Therapie. Mir wurde angeboten, entweder einen Assistenzhund oder ein Pferd zu beantragen. Ein Pferd ist ziemlich teuer und ich wüsste auch nicht, wo ich das hinstellen soll. Also haben wir uns für einen Hund entschieden“, sagt er und lacht.
Das Kennenlernen sei für ihn äußerst anstrengend gewesen. Denn im Vermittlungsprozess müssten sich Interessenten um die Assistenzhunde bewerben. „Wir mussten dafür nach Rostock fahren. Das war herausfordernd“, erinnert sich Jennifer Z.
Aber als ich die kleine Holly dann gesehen habe, die so gar nicht aussah, wie ein typischer Assistenzhund, wusste ich sofort, die wird es.
„Aber als ich die kleine Holly dann gesehen habe, die so gar nicht aussah, wie ein typischer Assistenzhund, wusste ich sofort, die wird es“, erzählt Julian Z.. Zuerst sei der kleine Mischling schüchtern gewesen. Und doch habe es sofort gefunkt. „Wir erhoffen uns viel von Holly“, sagt Jennifer Z.
Derzeit werde die Hündin speziell für die Bedürfnisse von Julian Z. ausgebildet. Erst Ende des Jahres darf sie dann bei Familie Z. einziehen. Die Idee ist, dass Holly dann überall mit mir hingeht. „Einkaufen, Ausflüge, unter Menschen. Vieles von dem, was meine Frau derzeit auffängt, kann dann Holly übernehmen. Sie soll dann immer bei mir sein und etwa dafür sorgen, dass andere Menschen Abstand von mir halten. Oder bei einer Panikattacke Unterstützung anbieten, indem sie sich eng an mich kuschelt“, erklärt der 38-Jährige.
Assistenzhundeausbildung für Holly ist teuer
Doch die Assistenzhundeausbildung sei teuer, sagt Julian Z.. Zuerst hatte das Paar online über den Reha-Assistenzhundeverein Deutschland einen Spendenaufruf gestartet. Doch nach wie vor fehle Geld. Deshalb findet am Sonntag, 9. März, ein Kaffee- und Kuchenverkauf zugunsten des Julian Z. statt. Los geht es um 10.30 Uhr im Kunibertus-Haus in Blatzheim. Veranstaltet wird die Aktion von drei befreundeten Frauen aus dem Dorf: Maren Ripp, Chrissi da Silva und Anna-Lena Franzke.
Bis heute ist der Prozess um die Attacke laut Julian Z. nicht abgeschlossen. Die Gründe für die Tat seien nach wie vor Gegenstand der Ermittlungen. Deshalb, so sagt er, spreche er auch nur vom „mutmaßlichen Täter“. Die Staatsanwaltschaft Köln bestätigt auf Anfrage, einen entsprechenden Fall der Gefährlichen Körperverletzung für den angegeben Tag vorliegen zu haben.
„Trotz allem, was diese Tat mit mir gemacht hat, empfinde ich Mitleid für diesen jungen Mann. Dieses Ereignis wird auf sein restliches Leben womöglich ebenfalls einschneidende Auswirkungen haben. Genau wie auf meins auch“, sagt der Vater zweier Kinder.