Wachtberg – Noch Stunden nachdem die ersten „Land unter“-Katastrophenmeldungen per Handy die Runde machten, ist Brigitte Schmeling fassungslos. „Zum dritten Mal in sechs Jahren abgesoffen, und bloß, weil die Gemeinde nichts tut.“ Mit der Hand deutet die 69-Jährige eine imaginäre Linie zwischen drei Steckdosen in ihrem Wohnzimmer an. Gut 20 Zentimeter hoch hat das Wasser vorhin gestanden. Zwei Männer aus der Nachbarschaft waten durch eine bräunliche Brühe und versuchen mit großen Besen dem immer noch nachsickernden Wasser Einhalt zu gebieten. Es ist mittlerweile fast zehn Uhr abends. Da kommt ein Anruf von einer Firma, die auf die Trocknung feuchter Räume spezialisiert ist. Das erste Mal, dass Brigitte Schmeling „an diesem Horrortag“ so etwas wie Erleichterung spürt.
Um 15.15 Uhr hatte das Unheil seinen Lauf genommen in Wachtberg-Niederbachem vor den Toren Bonns. Der normalerweise kaum 80 Zentimeter tiefe Mehlemer Bach entwickelt sich durch die Wassermassen aus Wiesen und Feldern weiter oberhalb zu einem reißenden Strom. Der gewaltigen Wucht ist die Brücke fast am Ende der Konrad-Adenauer-Straße nicht gewachsen und stürzt in sich zusammen. Innerhalb weniger Minuten ist die Straße überflutet, geparkte Autos können noch blitzschnell weggefahren werden, so dass sich zum Glück keine Schreckensszenen wie in Niederbayern wiederholen. Wie ein Sturzbach läuft das Wasser in den kleinen Krater, der dort klafft, wo eben noch die Brücke war, und überschwemmt die Ufer. Ziellos und planlos sucht sich die Schlammbrühe mit großem Tempo ihren Weg. „Da gab es kein Halten mehr, da war alles zu spät“, sagt Michael Risch, dessen Haus am dichtesten am Bach liegt.
Aber in das Gerede von den Naturgewalten, denen man hilflos ausgesetzt sei, mag er nicht einstimmen. Unmittelbarer als fast alle Nachbarn hat er die früheren beiden Brückeneinstürze miterlebt. „Beim ersten Mal 2010 hat man uns noch erzählt, so etwas passiert nur alle 100 Jahre. Und dann mussten wir 2013 das Gleiche noch mal erleben.“ Risch, der mit gebräuntem Oberkörper zum x-ten Mal versucht, den Bürgersteig von Schlammbrocken zu befreien, ist ein kräftiger Mann, der mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hält. Im Nachbarort Ließem gehört ihm das Gasthaus „Zur Schür“. Noch Tage wird der neuerliche Brückeneinsturz die Gespräche an seinem Tresen beherrschen. „Das hier ist ein hausgemachtes Problem“, schimpft Risch. „Die Brücke muss weg, die braucht keiner, dann haben wir Ruhe.“
Von der anderen Straßenseite ist Floris van Boxtel dazugekommen und stößt ins gleiche Horn. Der Niederländer, der ein schmuckes Klinker-Eigenheim direkt am Bachufer bewohnt, ist mit seiner Frau und der siebenjährigen Tochter gerade, durch die Schreckensmeldungen alarmiert, aus Zeeland heimgekehrt. Er betreibt eine Firma für Digital-Drucke und spricht ausgezeichnet Deutsch. Einen Moment muss er trotzdem überlegen, „wie man das nennt, wenn eine Behörde Mist macht“. „Schildbürgerstreich“, assistiert Gastwirt Risch. Und beide zeigen auf einen großen blauen Container mit abgeschlossenen Schubfächern. „Der steht da seit dem letzten Hochwasser vor drei Jahren, vorsorglich. Da sind Sandsäcke drin, aber da kommt niemand dran.“ Aber das ist nicht alles: Weil das Sandsack-Lager den Fluten im Weg stand, ist das Wasser in van Boxtels Haus gelaufen. Statt Schutz also zusätzlicher Schaden. „Unglaublich“, empört er sich und schimpft auf die Gemeinde, die es in sechs Jahren nicht geschafft habe, dafür zu sorgen, „dass wir hier in Sicherheit leben können“, obwohl der Mehlemer Bach als Hochwasser-Gefährdungsgebiet eingestuft sei. „Wir müssen praktisch bei jedem Gewitter zittern.“ Deswegen hätten viele Anwohner ein privates Alarmsystem entwickelt.
Auch jetzt wird bei Nachbarn nach dem Rechten gesehen. Barfuß steigt van Boxtel die Kellertreppe zu Brigitte Schmeling hinunter und ist beruhigt, dass ihre Tochter gekommen ist, um der Mutter moralisch Beistand zu leisten. Argwöhnisch schauen die beiden Frauen hinüber zu der Niederbachemer Mühle, die durch eine Mauer zum Bach hin geschützt ist. „Mir hat man die Genehmigung für eine Mauer verweigert“, klagt die Rentnerin. In der Tat ist die unter Denkmalschutz stehende Mühle vergleichsweise glimpflich davon gekommen. Der Mühlenbesitzer mag nicht namentlich genannt werden – und nicht in die Kritik an der angeblichen Untätigkeit der Gemeinde Wachtberg einstimmen. „Man muss auch selbst Vorsorge treffen.“ Und während er in Gummistiefeln durch einen kleinen Schlammsee im Hof watet, meint er noch, es gebe „halt auch immer mal Schicksalsschläge“. Das klingt in den Ohren von Gastwirt Risch und Unternehmer van Boxtel wie Hohn. Ein paar Schritte weiter unten wohnt Inge Ebner, die sich mit alten Sandsäcken vor Schlimmerem bewahrt hat. Von Schicksalsergebenheit hält auch die resolute 80-Jährige nichts. Eine vierte Überschwemmung will sie auf keinen Fall erleben müssen. Da bleibe ihr wohl nichts anderes übrig, meint sie bitter, als von Niederbachem wegzuziehen.