Streit der WocheSoll jeder Kreis seine eigenen Corona-Regeln haben dürfen?
Modellstädte hier, Notbremse da – das Chaos bei den Lockerungen ist groß. Ein Vorteil für die lokale Wirtschaft oder ein Pandemietreiber, der uns noch länger im Lockdown verharren lassen wird?Thorsten Breitkopf (43) ist Wirtschaftsressortleiter und meint, man sollte zumindest den Versuch zulassen, dass der Handel unter Auflagen öffnen kann. „Nur durch Experimente findet man einen Weg, eine Pleitewelle zu verhindern“, sagt er.Paul Gross (22) ist News-Redakteur und meint: Die Regeln sind undurchsichtig und willkürlich, das Chaos tödlich.
Pro: Generelle Verbote sind unverhältnismäßig
Fast kein Kommentar kommt dieser Tage ohne das Wort „Flickenteppich“ aus. Uneinheitlichkeiten der Regeln je nach Bundesland, Kreis oder gar einzelner Kommune empfinden die Deutschen momentan offensichtlich als politisch inszeniertes Verwirrspiel.
Was viele gerade vergessen: Wir leben in einem föderalen Land. Das mag auch Nachteile haben. Geschichtlich gesehen hat aber auch der Zentralismus Nachteile, wenn etwa in Rom bestimmt wird, was im fernen und gänzlich anders gewachsenen Südtirol geschieht. Um so etwas zu verhindern, hat sich die Bundesrepublik eine föderale Verfassung gegeben, mit Ländern, Kreisen und Gemeinden, die alle demokratisch legimitiert sind.
Jeder Ort tut, was ihm am besten entspricht
Die Idee des Föderalismus ist ja, dass in einem gewissen Maße vor Ort das getan oder gelassen wird, was den dortigen Gegebenheiten am besten entspricht. Und dazu gehört auch die aktuelle Corona-Strategie. So dürfen Geschäfte unter Auflagen in manchen Landkreisen eben öffnen, und in Köln etwa nicht, weil dort die Corona-Inzidenz über der erlaubten Grenze liegt.
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Dieses Vorgehen von vorne herein zu verteufeln, ist ein Fehler. Denn vieles deutet darauf hin, dass wir noch eine ganze Weile mit dem tödlichen Virus leben werden müssen. Um das zu tun, ohne ganze Wirtschaftszweige zu ruinieren und Massen in die Arbeitslosigkeit zu schicken, muss quasi in experimentellen Schritten vorgegangen werden.
Flächendeckende Verbote sind nicht verhältnismäßig
Dazu gehört etwa die Möglichkeit, das Einkaufen nur nach einem negativen Test zu ermöglichen. Oder eben nach Termin, mit eindeutiger Nachvollziehbarkeit darüber, welche Person wann in welchem Ladenlokal war. Dies im Umland zu verbieten, weil in Köln mehr Neuansteckungen stattfinden, ist nicht verhältnismäßig.
Nur das Ausprobieren, Tests, Terminvergabe, Click & Collect oder später die Nachverfolgung mittels einer Tracing-App, wird eine Lösung bringen, wie Einzelhändler auch in Corona-Zeiten Geschäfte machen können.Denn bei dem Gedanken, wie man die Pandemie endlich eingrenzen kann, dürfen deren wirtschaftliche Opfer nicht vergessen werden. Tausende Einzelhändler und mit ihnen Millionen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bangen ernsthaft und akut um ihre wirtschaftliche Existenz. Der geschätzte Umsatzverlust beläuft sich laut dem Handelsverband Deutschland (HDE) auf 35 bis 40 Milliarden Euro. Die erneute Verlängerung des Lockdowns bis 18. April sorgt pro geschlossenem Verkaufstag für weitere Verluste von bis zu 700 Millionen Euro. Im Ergebnis sind bis zu 120 000 Geschäfte in Existenzgefahr, hat der Verband ermittelt. Mit den Unternehmen wanken ganze Innenstädte.
Wohnort beim Anmelden angeben
Will man einen Shopping-Tourismus verhindern, so ist das per Terminvergabe ohne größeren Aufwand möglich. Die aktuelle Regelung müsste lediglich darum erweitert werden, dass Kunden ihren Wohnort beim Anmeldevorgang mit angeben. Leben sie in einem Kreis oder einer kreisfreien Stadt mit einem bestimmten Inzidenzwert, so wird ihnen der Termin einfach verwehrt.
Eine solche Wohnort-Regelung würde viele besser stellen – sowohl Händler als auch Kunden. Jedenfalls würde zumindest ein Teil des wirtschaftlichen Schadens für die arg gebeutelte Handelsbranche gemindert.
Thorsten Breitkopf, 42, Ressortleiter Wirtschaft
Contra: Das Chaos ist tödlich
Wer in Köln vor einer Woche Shoppen gehen wollte, konnte das tun – mit Termin, ohne negativen Test. Das verkündete damals der Krisenstab der Stadt. Zeitgleich hieß es vom Land: Die Notbremse muss gezogen werden. Aber der Krisenstab tagte eben ein paar Minuten zu früh, um etwas von den neuen Vorgaben mitzubekommen. Die Schließungen holte Köln drei Tage später nach. Jetzt ist alles dicht.
Shoppen können die Kölner trotzdem. Sie müssen sich dafür nur ein paar Kilometer in den Rhein-Erft-Kreis bewegen. Dort darf man durch alle Geschäfte stöbern – bei höherer Inzidenz. In Rhein-Berg braucht es zum Shoppen nicht Mal einen negativen Test. Es ist eines von vielen Beispielen für willkürliche lokale Corona-Regeln. Niemand blickt durch. Die Städte sind überfordert, das Land sowieso. Es liegt nahe, sich über das willkürliche Konstrukt aus Verboten und Ausnahmen zu amüsieren. Nur: Das Chaos ist tödlich.
Lokale Lockerungen sind ein Anreiz für Ausflüge
Zum einen, weil lokale Lockerungen ein Anreiz für Ausflüge sind – für höhere Mobilität also. Das Virus hält sich nicht an Kreisgrenzen und wir tun es erst Recht nicht, wenn man uns lockt. Doch genau diese Bewegungen führen schnell zu deutlich mehr Infektionen, das haben zahlreiche Studien erwiesen.Zum anderen, weil die Maßnahmen oft nicht mehr nachvollziehbar sind. Wenn Regeln in einem Ort aufgestellt und ein paar Kilometer weiter abgeschafft werden, zweifeln wir, ob sie wirklich notwendig sind. Und damit auch, ob wir sie befolgen sollen.
Und: Das Chaos ist ein wirtschaftliches Desaster. Das Land lässt den Kommunen viel Spielraum, stoppt Öffnungen nur bei massivem öffentlichem Druck. Das mag einige kurzfristig freuen. Doch der Status quo ist das Gegenteil jenes konsequenten Lockdowns, den es im Laufe der dritten Welle früher oder später ohnehin brauchen wird. Je später er beschlossen wird, desto länger wird er andauern. Der Flickenteppich aus kommunalen Maßnahmen, die Suche nach Schlupflöchern kann den Gastronominnen, Händlern und Kulturschaffenden einen halbwegs normalen Sommer kosten.
Tübingen ist gescheitert
Die Idee der Modellstädte, in denen Schließungen mit mehr Tests verhindert werden sollen, ist in Tübingen gescheitert. Sie steht symbolisch für den wohl gut gemeinten, aber hochgefährlichen Versuch, bei rasant steigenden Infektionszahlen mit lokalen Lockerungen zu experimentieren. In Tübingen haben sich die Infektionszahlen binnen weniger Wochen verdreifacht. Schnelltests, das müssen wir schlicht anerkennen, machen bislang keine sicheren Öffnungen möglich.
Die Verantwortlichen sollten sich zurückbesinnen auf den größten politischen Erfolg, den Deutschland im Kampf gegen das Virus bislang hatte. Es war der erste Lockdown im vergangenen Frühjahr. Das Land stand still, soweit das möglich war.
Lokale Ausnahmen schienen undenkbar, denn es war völlig klar: Wir wollen wieder raus aus dieser Situation. Es folgte ein entspannter Sommer. Diese Perspektive fehlt heute, ein Jahr Krise hat kurzsichtig gemacht.Der Wettbewerb um lokale Öffnungen ist erst dann sinnvoll, wenn die Inzidenzen niedrig sind und alle Kontakte verfolgt werden. Kompromisse mit dem Virus sind unmöglich. Diese Pandemie folgt keiner Dramaturgie. Um sie zu bekämpfen, müssen wir sie so ernst nehmen, wie sie ist.
Paul Gross, 22, Newsredakteur