Die SPD feiert ihre 160-jährige Geschichte und überlässt die Schlussrede überraschend der Vorsitzenden des Ethikrates.
160 Jahre SPDDie Kraft der SPD, zum Geburtstag Tadel einzuholen
Wenn man 160 Jahre alt wird, den Ersten Weltkrieg, die Nazis und den Zweiten Weltkrieg übersteht und heute den Bundeskanzler stellt, ist Lob fällig. Und wenn man klug ist, auch Tadel. Für das, was noch nicht gut gelingt. Als Ansporn für die Ideen von morgen – wie sie die SPD zu ihrem Jubiläum am Dienstag im Willy-Brandt-Haus verspricht. Vermutlich hat die Partei nicht damit gerechnet, wie pointiert der Tadel ausfallen wird, aber es spricht für sie, dass sie sich zur Feier des Tages die Kritik ins Haus geholt hat.
Die große Überschrift der SPD ist „Fortschritt braucht Gerechtigkeit“. Darum geht es der Sozialdemokratie auch in den 2020er-Jahren: Gerechtigkeit und Respekt als Kitt für die Gesellschaft. Olaf Scholz hat damit Wahlkampf gemacht. Aber ist die Politik seiner Ampelregierung nun gerecht? Generalsekretär Kevin Kühnert ruft nach den Auftritten von Olaf Scholz für die Schlussrede einen Gast von außen auf die Bühne. Das ist ungewöhnlich, denn wer zuletzt spricht, bleibt unwidersprochen. Es ist die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Alena Buyx, die der versammelten SPD-Elite etwas über mehr Gerechtigkeit erzählt. Sie bekommt viel Beifall, aber nicht alle sind begeistert. Sie gibt der Partei „drei ethische Faustregeln“ auf den Weg.
Drei Faustregeln vom Ethikrat
Erstens: zur Gerechtigkeit. Sie habe sich „wahnsinnig geärgert“, dass auch sie – als Gutverdienende – die Erhöhung des Kindergeldes sowie das Energiegeld bekommen habe. „Krisen betreffen uns alle, aber sie betreffen uns nicht alle in gleicher Weise“, sagt sie. Die Debatte über Gleichheit und Gerechtigkeit sei schon so alt. Die Gleichheit könne der Gerechtigkeit aber im Wege stehen. Starke Schultern müssten mehr tragen als schwache und es sei die Aufgabe der Politik, das mutig und transparent zu machen. Die junge Generation sei in der Minderheit und werde es bleiben, schon deswegen sei sie immer „eine besonders schwache Gruppe“. Wie in der Corona-Krise.
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Zweitens: zum Fortschritt. Die Politik müsse dringend dafür sorgen, dass die künstliche Intelligenz (KI) nicht den einen Menschen riesige Vorteile verschaffe und die anderen abhänge. Denn KI habe dieses Potenzial: Die Klugen werden klüger, die Dummen dümmer, die Reichen reicher. Das habe nichts mit Gerechtigkeit zu tun.
Und drittens: das Wir. „Wir müssen als Gesellschaft im Wir, im Miteinander bleiben.“ Deutschland habe ein herausragendes solidarisches Potenzial. Sie habe erwartet, dass die Bevölkerung nach der Corona-Pandemie erschöpft sei, sagt Buyx. Und dann habe es sofort wieder eine enorme Solidaritätswelle mit den ukrainischen Geflüchteten gegeben. Das Problem sei aber: Diese Leistung werde als solche gar nicht mehr gebührend wahrgenommen. „Das stärkt den populistischen, rechten Rand und das ist brandgefährlich“, warnt sie. Die Politik müsse mehr acht auch auf die Psyche der Menschen geben, sie vor Überlastung schützen. „Denn demokratische Widerstandfähigkeit hängt mit der psychischen Gesundheit zusammen.“
Mit positivem Blick in die Zukunft
Ihr Fazit: Bürgerinnen und Bürger brauchen mehr Aufmerksamkeit für ihre eigenen Leistungen und die Errungenschaften des Landes. Am Beispiel der Flutkatastrophe im Ahrtal sei zu erleben, dass immer nur eine Verlustgeschichte erzählt werde, aber nicht die Veränderung zu einer besseren Zukunft. Neues Leben, Wohnen und Arbeiten. An dieser Stelle lobt sie Olaf Scholz, der die Menschen auch am Dienstag wieder um mehr Gelassenheit bittet und sie zu Aufbruch und Zuversicht trotz Krisenzeiten aufruft. Er ist überzeugt: „Das geht gut aus!“
Den klimagerechten Umbau der Wirtschaft bezeichnet er als historische Aufgabe, die nicht nur den Grünen überlassen sei. Er verspricht Sicherheit im Wandel – ein „Geländer mit einem kraftvollen und wirksamen Sozialstaat“. Klingbeil beruft sich auf das Vermächtnis von Willy Brandt, auch international Türen zu öffnen, und Esken beschwört die DNA der SPD. Es zähle nicht, „was du glaubst, wie du lebst, wen du liebst. Sondern nur du.“ Für Buyx ist dabei aber noch dies entscheidend: Das Verhältnis des Individuums zum Staat. „Was dürfen wir voneinander verlangen?“ Wer, wenn nicht die Politik, müsse das beantworten. Respektvoll und gerecht.