Saporischschja – Die Situation im umkämpften ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja bleibt angespannt. Nachdem das Kraftwerk etwa eine Woche lang vom Stromnetz getrennt war, wurde nun auch der letzte der sechs Reaktorblöcke heruntergefahren. Dies teilte der Kraftwerksbetreiber Energoatom am Sonntag mit.
In den vergangenen Tagen versorgte der letzte Reaktorblock nur noch das Kraftwerk selbst mit Strom, in einer Art Insellösung. Für einen längeren Zeitraum ist das aber nicht möglich, da das AKW auf eine externe Stromversorgung angewiesen ist, sagt Clemens Walther, Leiter des Instituts für Radioökologie und Strahlenschutz der Universität Hannover.
Reaktor in den „sichersten Zustand“ versetzt
Laut Betreiber Energoatom konnte am Wochenende zumindest eine der beschädigten Stromleitungen wiederhergestellt werden. Dadurch konnte der Reaktor in den „sichersten Zustand“, eine Kaltabschaltung, versetzt werden.Laut Experte Walther benötigen aber auch Reaktorblöcke nach der Abschaltung noch große Mengen an Strom zur Kühlung des Reaktorkerns und der Brennelemente. „Der Reaktor hat direkt nach dem Abschalten noch circa 6 Prozent seiner Nennleistung“, sagte er im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Daher produziere der Reaktorkern immer noch 180 Megawatt Leistung, die gekühlt werden müssten.
Trotzdem führt der abgeschaltete Reaktor zu mehr Sicherheit in der Region. „Wenn die Reaktoren heruntergefahren wurden, ist das Schadenspotenzial deutlich geringer“, so Experte Walther. Der Grund: Es herrschen keine hohen Temperaturen und kein hoher Druck mehr im Reaktorkern. Sollte es aufgrund von starkem Beschuss zu Schäden kommen und der Reaktorkern zerstört werden, verbreite sich laut dem Experten die Radioaktivität nicht so stark wie bei einem aktiven Reaktor. „Zum Vergleich: Sie machen nicht mehr einen Schnellkochtropf unter Druck auf, sondern öffnen nur noch die Tupperdose im Kühlschrank.“
Große Sorge um Kernschmelze
Sollte erneut die Stromverbindung gekappt werden, müsste das AKW Saporischschja, Europas größtes Kernkraftwerk, auf seine 20 Diesel-Notstromaggregate zurückgreifen. Die aktuellen Dieselreserven auf dem Kraftwerksgelände reichen jedoch nur für einen zehntägigen Notstrombetrieb. Das geht aus dem Untersuchungsbericht der IAEA-Inspektoren hervor, die sich Ende August vor Ort ein Bild von der Situation machen konnten. Anschließend seien täglich 200 Tonnen Diesel nötig, was angesichts der Kämpfe rund um das Kraftwerksgelände von Fachleuten als unmöglich eingeschätzt wird.
„Wenn der Strom länger ausfällt, kann es zur Kernschmelze kommen“, so Experte Walther. Dieses Szenario, und nicht Raketeneinschläge an der massiven Reaktorhülle, sei aus seiner Sicht derzeit die größte Gefahr. Eine unmittelbare Bedrohung für die Bevölkerung sei jedoch nicht zwangsläufig die Folge.
„Russland muss dieses Spiel mit dem Feuer sofort beenden“
Walther verweist auf den Reaktorunfall im AKW Three Mile Island 1979, bei dessen Kernschmelze praktisch keine Radioaktivität aus dem Reaktor ausgetreten war. Weil der Reaktor in Saporischschja in seinem Aufbau dem von Three Mile Island ähnele, stünden die Chancen gut, dass bei einer Kernschmelze in Saporischschja ebenfalls „keine nennenswerte Radioaktivität“ austritt.
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Am Wochenende forderten auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Außenministerin Annalena Baerbock den vollständigen Abzug russischer Truppen vom Gelände des Atomkraftwerks. „Russland muss dieses Spiel mit dem Feuer sofort beenden“, forderte Baerbock bei ihrem Besuch in Kiew.
Das Kernkraftwerk befindet sich im im aktiven Kampfgebiet und im Bereich der Front zwischen ukrainischem und russisch besetztem Territorium. Aufgrund seiner Größe hat es zudem eine wichtige Bedeutung für die Stromversorgung der Ukraine und Europas. Außerdem vermutet die Ukraine, dass Russland Waffen auf dem Kraftwerksgelände lagert und aus der unmittelbaren Umgebung des AKWs Angriffe auf ukrainische Stellungen verübt. (rnd)