Frau Baerbock, Sie sind seit zwei Wochen Kanzlerkandidatin der Grünen. Was hat sich seitdem für Sie geändert?Annalena Baerbock: „Corona-bedingt nicht sehr viel. Ich arbeite viel aus dem Homeoffice. Aber das mediale Interesse ist natürlich deutlich größer geworden.“
Auch ihr Co-Parteichef Robert Habeck wollte gerne Kanzlerkandidat werden. Kurze Karriereberatung: Wie setzt man sich durch?
„Das war kein Ellbogenherausfahren nach dem Motto „Der Stärkere setzt sich durch“. Wir haben das gemeinsam entschieden. Wenn man drei Jahre gut als Team zusammengearbeitet hat, ist es nicht einfach, wenn eine Person einen Schritt vortreten muss. Was uns Kraft gibt, ist unser Grundvertrauen ineinander und der gegenseitige Respekt. Beides lässt sich nicht erschüttern.“
Sie gehen offensiv damit um, keine Regierungserfahrung zu haben. Warum halten Sie das nicht für entscheidend?
„Natürlich ist politische Erfahrung wichtig. Ich bin seit acht Jahren Bundestagsabgeordnete und führe seit drei Jahren gemeinsam mit Robert Habeck eine Partei an, der inzwischen zugetraut wird, das Land von der Spitze aus zu führen. Wie man verhandelt und um beste Lösungen ringt, Entscheidungen trifft und Mehrheiten organisiert, habe ich in den letzten Jahren gezeigt. Und bei der Exekutiv- und Verwaltungserfahrung kann ich auf die breite Kompetenz in der Partei zurückgreifen. Wir regieren in elf Ländern mit, wir stellen einen Ministerpräsidenten und haben auch auf Bundesebene Regierungserfahrung.“
Sprechen wir zunächst über Corona: Halten Sie die aktuell geltenden nächtlichen Ausgangssperren für verfassungskonform?
„Ich habe große Zweifel daran, dass diese pauschale, deutschlandweite Regelung mit der Verfassung vereinbar ist. Es handelt sich um eine starke Grundrechtseinschränkung, andere Bereiche wie die Arbeitswelt werden dagegen stark ausgespart. Ich bezweifle, dass das so verhältnismäßig ist.“
Bei der Abstimmung im Bundestag hat sich Ihre Fraktion enthalten. Das wirkt nicht entschlossen.
„Wir haben lange für eine bundesweite Regelung gekämpft. Dass es sie gibt, ist richtig. Aber das Gesetz reicht nicht aus, um die Infektionszahlen wirklich schnell einzudämmen. Eine Testpflicht in der Arbeitswelt haben Union und SPD abgelehnt. Insgesamt fehlt es an Wirksamkeit und Ausgewogenheit. Deshalb konnten wir nicht zustimmen.“
Sollten Geimpfte alle Freiheitsrechte zurückbekommen?
„Die drastische Einschränkung von Freiheitsrechten muss immer wieder kritisch überprüft werden. Ich finde es daher richtig, dass Geimpfte mit denen gleichgestellt werden, die ein negatives Testergebnis haben. Aber so lange nicht breitflächig geimpft ist, müssen wir Abstand und Maskenpflicht aufrechterhalten. Sinnvoll wäre sogar eine FFP2-Maskenpflicht. Halbherziges Agieren führt dazu, dass Grundrechte weiter eingeschränkt werden.“
Am 1. Mai läuft die Corona-Regelung zum Insolvenzrecht aus. Firmen können dann ihre Insolvenzanträge nicht mehr herauszögern. Sollte die Regelung verlängert werden?
„Vor allem brauchen wir eine verbindliche Zusage, dass die Wirtschaftshilfen, die ja vor Insolvenz schützen sollen, über den Juni hinaus greifen. Das Problem ist doch, dass die Bundesregierung die Unternehmen viel zu lange hat im Regen stehen lassen und die Überbrückungshilfe III zu einem wesentlichen Teil jetzt erst ankommen. Entscheidend ist daher nicht mehr so sehr die von Ihnen angesprochene Aussetzung der Insolvenzantragspflicht, sondern vor allem, dass wir den Betrieben wirklich unter die Arme greifen. Das heißt, Eigenkapitalzuschüsse auch auf Solo-Selbstständige ausweiten und eine Neustarthilfe für die am härtesten getroffenen Unternehmen, etwa durch Gründungszuschüsse.“
Corona hat für die einen Homeoffice bedeutet, für andere Kurzarbeit. Wo sehen Sie Regelungsbedarf?
„Prekäre Bedingungen sind im Corona-Jahr deutlich zu Tage getreten. Es hat sich gezeigt, dass die Schlechterstellung von Frauen strukturell verankert ist. Auch die Arbeitsbedingungen bei Lieferdiensten sind oft eine Zumutung. Scheinselbständige verdienen wenig und sind kaum geschützt. Insofern ist der Tag der Arbeit in diesem Jahr noch mal besonders wichtig, weil er das Augenmerk darauf richtet, dass sich gerade in diesen Bereichen grundlegend was ändern muss.“
Wie wollen Sie eingreifen?
„Erstens muss der Mindestlohn auf 12 Euro steigen und zweitens auch tatsächlich gezahlt werden. Nach Schätzungen passiert das bei 1,8 Millionen Arbeitnehmern nicht. Es muss besser kontrolliert werden. Nötig ist auch ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften, weil es oft schwierig ist, sich als einzelner Arbeitnehmer zu wehren. Das liegt daran, dass man seine Rechte nicht kennt oder Sorge hat, seinen Job zu verlieren. Für die Verlagerung von Arbeit an Subunternehmen muss es klare Mindeststandards geben. Jobs auszulagern, darf nicht dazu genutzt werden, um Tarifverträge oder Arbeitsrecht zu umgehen. Außerdem dürfen öffentliche Aufträge nur noch an Unternehmen vergeben werden, die mindestens Tariflöhne zahlen. Das spielt in der Baubranche eine große Rolle, aber auch im Pflegebereich.“
Sollen Pflegeheime nur noch dann Geld aus der Pflegeversicherung bekommen, wenn sie Tariflöhne zahlen?
„Ja.“
Was würde das für Bewohner von Pflegeheimen bedeuten, die dann aus der Finanzierung rausfallen?
„Das Druckmittel ist so groß, dass sich die Pflegeheime daran halten und ihre Lohnstrukturen umstellen werden. Neben der Bezahlung müssen wir aber auch die Personalschlüssel angehen, die zu einer chronischen Unterbesetzung führen. Wir brauchen klare arbeitsrechtliche Regelungen: Wo immer möglich, müssen Menschen bei körperlichen Anstrengungen durch technische Hilfsmittel entlastet werden. Es ist doch nicht nötig, dass eine 55-Jährige einen 90-Kilo-schweren Patienten ins Bett hebt, dazu gibt es Geräte. Auch eine 35-Stunden-Woche für Pflegekräfte würde die Belastung reduzieren. All das kann dazu beitragen, dass die Flucht aus dem Pflegeberuf gestoppt wird. Wer bei dieser hohen Belastung irgendwann nicht mehr kann, sucht sich früher oder später etwas anderes, auch wenn er seinen Job liebt.“
Haben Sie mal ausgerechnet, was Ihre Pflege-Pläne kosten würden?
„Das kostet natürlich Milliarden. Wir wollen den Pflegevorsorgefonds auflösen, um das Geld unverzüglich zu nutzen.“
Der Fonds galt als Demografie-Reserve, für die Zeit, in der die Babyboomer-Generation ins Pflegealter kommt. Wie wollen Sie das dann abfedern?
„Wir müssen mehr Menschen in sozialversicherungspflichtige Jobs bringen. Die zahlen dann auch in die Pflegekasse ein. Wir wollen außerdem langfristig das Beitragsaufkommen erhöhen, indem wir Kapitaleinkommen, Selbstständige und Beamte einbeziehen und einen solidarischen Kostenausgleich zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung schaffen.“
Zu Europa: Die EU versucht seit Jahren, einen gerechten Mechanismus zur Verteilung von Flüchtlingen zu finden. Haben Sie ein Rezept?
„Wir müssen zu einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik kommen. Aber das ist nicht möglich, wenn wir in der EU der 27 immer auf den Langsamsten, den Zögerlichsten warten, so realistisch muss man sein. Es gibt auf europäischer Ebene einen Vorschlag, wie die Verteilung organisiert werden kann, man muss ihn nur umsetzen. Dafür müssen die Staaten vorangehen, die bereit sind, für Humanität und geordnete Strukturen zu sorgen. Europa ist immer gewachsen, wenn sich einige zusammengetan haben und vorangegangen sind. Das war so beim Euro und bei der Einführung der Freizügigkeit. Jetzt brauchen wir diese Bereitschaft wieder.“
Die Bundesregierung setzt auf das EU-Türkei-Abkommen. Sie auch?
„Das Abkommen ist gescheitert. Europa hat sich damit erpressbar gemacht. Letztes Jahr hat die Türkei Flüchtlinge ins Niemandsland an der Grenze karren lassen, um die EU unter Druck zu setzen – und Europa hat völlig hilflos reagiert. Wir brauchen daher ein neues Abkommen, das diesmal völkerrechts- und rechtsstaatskonform ist und aus den Fehlern der Vergangenheit lernt. Es braucht weitere Millionenzahlungen und logistische Unterstützung, um die Lebensbedingungen der Geflüchteten in der Türkei zu stabilisieren – bei Gesundheit, Schule und Berufszugang. Das hat für Syrer gut funktioniert, andere Nationalitäten müssen einbezogen werden. Und die EU muss ihre Zusagen für die Aufnahme von festen Flüchtlingskontingenten aus der Türkei und Griechenland einhalten. Ohne Verlässlichkeit funktioniert Europa nicht.“
Wie sanktionieren Sie die EU-Staaten, die bei der Verteilung nicht mitmachen?
„Wir sollten es andersrum machen und ein Anreizsystem etablieren. Ich schlage vor, die Länder und Kommunen zu fördern, die Geflüchtete aufnehmen. Und es gibt ja bereits den europäischen Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds, in den dann die Länder verstärkt einzahlen sollten, die nicht aufnahmebereit sind.“
CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet wirft den Grünen vor, schöne Ideale zu verbreiten, in der Praxis – also etwa in Landesregierungen – aber ganz anders zu handeln, etwa in der Klima- und Wirtschaftspolitik.
„Wir haben einen klaren Plan vorgelegt, wie Deutschland auf den Pfad der Klimaneutralität kommt. Unser Vorschlag ist ein Pakt für die Industrie. Die Grundstoffindustrie, also etwa die Stahlbranche, ist zentral für die Reduzierung der CO2-Emissionen. Der Staat muss ihr beim Umbau helfen. Es bringt den Unternehmen nichts, wenn sie klimaneutralen Stahl herstellen, der nicht wettbewerbsfähig ist, weil er mehr kostet. Dafür muss es einen Ausgleich geben. Außerdem braucht es Quoten für klimaneutrale Produkte, damit die europäische Stahlindustrie nicht durch billig hergestellten chinesischen Stahl überrollt wird. Wenn Europa die ausgestreckte Hand der US-Regierung für eine Klimaallianz ergreift, könnten die EU und die USA gemeinsam Standards für klimaneutrale Produkte setzen. Auch hier gilt: Abwarten und der Industrie viel Glück auf ihrer Reise wünschen, gefährdet den Industriestandort Europa.“
Welche Quoten für klimaneutrale Produkte schweben Ihnen vor?
„Bei Autos wäre ein erster Schritt eine Quote von zehn Prozent klimaneutralem Stahl, sobald es ihn in ausreichender Menge gibt. Für die Klimabilanz eines Autos zählt ja nicht nur, was aus dem Auspuff kommt, sondern auch, wieviel CO2 bei der Produktion ausgestoßen wird. Ein nationaler Alleingang macht allerdings keinen Sinn. Wir exportieren drei Viertel unserer Produkte in den europäischen Binnenmarkt. Europa muss gemeinsam handeln, im Sinne des Europäischen Green Deals.“
Das Bundesverfassungsgericht hat das Klimaschutzgesetz als nicht ausreichend bezeichnet und dem Gesetzgeber eine Frist zur Nachbesserung gesetzt. Was würden Sie ganz konkret hineinschreiben?
„Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts unterstreicht, dass wir jetzt konsequent und konkret handeln müssen, um mehr CO2 einzusparen Sonst haben kommende Generationen keinen ausreichenden Spielraum mehr. Das heißt, es braucht jetzt ein Klimaschutzsofortprogramm: bis Mitte dieses Jahrzehnts jährlich doppelt so viel an Erneuerbaren ausbauen wie jetzt, schneller aus der Kohle aussteigen und auf klimaneutrale Autos umsteigen. Und das wollen wir in einer neuen Bundesregierung tun.“
Leben Sie selbst klimaneutral?
„Ich versuche es, so gut wie es im Alltag eben geht. Aber völlig klimaneutral ist derzeit kaum möglich, außer man kapselt sich komplett ab von jeglicher Infrastruktur. Das ist ja das Zentrale: Es geht nicht darum, den besseren Menschen zu erziehen. Sondern darum, das System zu ändern. Derzeit ist meist das Schmutzigste das Billigste, zum Beispiel ist Rohöl für Plastik von der Mineralösteuer befreit. Dieses Prinzip wollen wir umkehren. Künftig sollten die Produkte, die am saubersten und am besten für die Gesellschaft sind, die Produkte sein, die den größten Vorteil auf dem Markt haben.“
Wie kriegen Sie die Menschen überzeugt, die höhere Lebensmittelpreise fürchten und Auto-Verbot?
„Indem wir konkrete Vorschläge entlang der Lebenswirklichkeit machen. Man kann nicht alles über einen Kamm scheren. Wer über Mobilität redet, muss unterscheiden zwischen der Stadt, wo es einen dichten Takt von Bus und Bahn gibt und dem Land, wo selbst tagsüber nur fünf Mal der Bus fährt. In der Landwirtschaft wird Geld viel zu wenig nach dem Kriterium Nachhaltigkeit vergeben. Das führt dazu, dass oftmals gesundes Gemüse teurer ist als Fleisch aus Massentierhaltung. Dieses System kommt alle Menschen teuer zu stehen, gerade die Ärmsten.“
Wie sieht es eigentlich aus, wenn Sie die Geduld verlieren?
„Schmale Lippen, schmale Augen, deutlicher Blick. Dann erkennen manche im Raum, dass es jetzt langsam reicht.“
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Wäre das auch ihre Methode für den Umgang mit anderen Staatschefs?
„Auf den Tisch zu hauen reicht nicht aus. Man braucht eine klare Haltung und einen eigenen Kompass, um das Spektrum der Diplomatie – Dialog, Anreize und Härte – in seiner vollen Breite zu nutzen.“
Das Gespräch führte Eva Quadbeck und Daniela Vates.