Immunologe im InterviewBA.5 verzeiht weniger Fehler – auch im Sommer
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Jeder kennt plötzlich wieder jemanden, der oder die Corona hat – und das mitten im Sommer, mit dem Start der Urlaubszeit.
Das Virus ist äußerst ansteckend geworden. Zwei Meter Abstand halten, lieber draußen treffen, Maske tragen – schützen solche Maßnahmen da überhaupt noch?
Der Dortmunder Immunologe Carsten Watzl sagt: BA.5 verzeiht weniger Fehler.
Herr Watzl, plötzlich kennt wieder jeder jemanden, der oder die gerade Corona hat. Dabei haben wir uns eigentlich auf einen entspannteren Sommer eingestellt. Können wir uns nicht mehr auf saisonale Ruhe verlassen?Watzl:Den saisonalen Effekt gibt es noch. Steigende Temperaturen verhindern nicht, dass sich das Coronavirus verbreitet, vermindern das aber. Sprich: Die Leute sind mehr draußen, die Sonne scheint mit UV-Strahlung, die Schleimhäute sind wieder besser durchblutet. In den vergangenen Jahren hat das dazu geführt, dass wir im Sommer einstellige Inzidenzen hatten. Aber das Virus hat sich verändert.
Inwiefern?
Wir haben jetzt BA.5. Diese Omikron-Untervariante ist wirklich äußerst ansteckend und schafft es, gegen den saisonalen Effekt zu arbeiten und eine richtige Infektionswelle auszulösen. Wir sind im Juni schon bei Inzidenzen über 500, in einigen Landkreisen über 1000. Fällt im Herbst der Temperatureffekt, wird es deshalb wahrscheinlich noch einmal sehr viel mehr Ansteckungen geben. Ich kann mir dann auch wieder eine Maskenpflicht vorstellen, beispielsweise in Supermärkten. Wir müssen aufpassen, dass sich das Virus nicht wieder zu stark in den vulnerablen Gruppen ausbreitet.Carsten Watzl ist Immunologe und Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie (DGfI).
Das stimmt, die Impfung schützt nicht mehr so gut vor der reinen Infektion. Aber, und das ist wichtig, sie schützt immungesunde Menschen immer noch vor schwerem Covid-19. Genau das sehen wir gerade. Sehr viele Menschen infizieren sich, entwickeln grippeähnliche Symptome, fallen ein paar Tage aus. Aber verglichen mit früheren Wellen, Delta etwa, erkranken deutlich weniger Menschen so schwer, dass sie versterben oder wochenlang im Krankenhaus behandelt werden.
Zwei Meter Abstand halten, lieber draußen treffen – helfen solche Schutzmaßnahmen noch, wenn BA.5 so ansteckend ist?
Die Maßnahmen schützen immer noch. Aber man sollte noch etwas vorsichtiger sein. Das Virus verzeiht weniger Fehler. Es braucht bei BA.5 viel weniger Viren, damit man sich ansteckt. Das heißt: Wenn die Maske schlechter sitzt oder ich sie zwischendurch abnehme und doch ein paar Virenpartikel einatme, führt das eher zur Infektion als früher. Wenn ich mich draußen mit Abstand an einem windstillen Tag treffe, ist es wahrscheinlicher geworden, mich trotzdem anzustecken – auch wenn das generell immer noch sehr selten an der frischen Luft passiert.
Sie sind dreifach geimpft und haben sich im Juni selbst mit Corona infiziert. Werden Sie persönlich in diesem Sommer noch Maske tragen und Abstand halten?
Rein immunologisch habe ich mit der Infektion bereits meinen BA.5-angepassten Booster bekommen und müsste erst mal keine Maske mehr tragen. Ich werde nun einige Wochen vergleichsweise viele Antikörper in den Atemwegen haben und mich in dieser Zeit wahrscheinlich nicht noch ein zweites Mal infizieren und andere anstecken. Es gibt aber ein gewisses Restrisiko, das mit der Zeit auch wieder zunimmt. Im Supermarkt werde ich die Maske deshalb beispielsweise weiter tragen. Die Maske stört mich auch nicht.
Wer muss denn im Alltag noch besonders aufpassen? Der Immunschutz ist bei jedem und jeder anders: Manche sind geboostert, manche grundimmunisiert, manche haben sich angesteckt, manche beides. Einige sind älter, einige haben Vorerkrankungen.
Hohes Alter ist immer noch der größte Risikofaktor. Wer über 60 Jahre alt ist, weiß oft gar nicht, dass er oder sie ein geschwächtes Immunsystem hat. Auch Krebserkrankungen und Organtransplantationen bringen ein stark erhöhtes Risiko mit sich. Deshalb sollten sich über 70-Jährige und Menschen mit Immunschwäche lieber jetzt ein viertes Mal impfen lassen, wie es die Stiko empfiehlt.
Obwohl im Herbst mit neuen Impfstoffen zu rechnen ist?
Mit der vierten Dosis wird der Schutz vor Infektion und Erkrankung wiederhergestellt, den man nach der dritten Dosis hatte. Das ist zwar nur ein temporärer Effekt. Viele werden sich im Herbst wahrscheinlich ein fünftes Mal impfen lassen. Das schadet immunologisch gesehen aber nicht. Man riskiert mit einer vierten Impfung nichts für den Herbst – sollte dann ein neuer, wirksamer Impfstoff kommen. Und auch, wer sich ohne Risikofaktoren noch nicht die dritte Dosis geholt hat, sollte das jetzt schleunigst nachholen. Das ist bei Omikron wirklich das Beste, was man für sich selbst tun kann.
Ist es in Ordnung, wenn ich bei steigenden Corona-Zahlen auf große Feiern und Festivals gehe?
Wenn sich junge Leute auf einem Festival treffen, habe ich damit kein Problem. Die meisten sind geimpft, gesund, und haben keinen schweren Verlauf, sollten sie sich dort infizieren. Aber wenn sie danach Oma oder Opa sehen wollen, wäre es ratsam, sich vorher zu testen, ein paar Tage bis zum Besuch zu warten und die Kontakte bis dahin zu reduzieren. Vorsichtiger werden kann auch in der Urlaubszeit lohnen. Niemand will drei Tage vor Abflug coronapositiv sein. Es macht also Sinn, zwei Wochen vor Reisebeginn die eigenen Kontakte zu begrenzen und größere Veranstaltungen zu meiden.
Was halten Sie davon, sich jetzt absichtlich zu infizieren?
Früher oder später wird sich jeder und jede mit Corona infizieren. Wer immungesund ist, unter 60 Jahre alt und dreifach geimpft, hat sehr wahrscheinlich auch keinen schweren Verlauf. Die Angst vor dem Virus kann man dann verlieren. Das Risiko ist überschaubar. Und wer sich jetzt im Sommer infiziert, ist wahrscheinlich im Herbst nicht mehr fällig. Sich absichtlich zu infizieren, wäre trotzdem fahrlässig.
Warum?
Auch bei einem vergleichsweise „milden“ Verlauf mit Grippesymptomen kann man tagelang im Bett liegen und sich wirklich elendig fühlen. Es gibt das Risiko von Long Covid. Das kann beispielsweise auch jüngeren Frauen mit leichtem Verlauf passieren. Wer sich jetzt ansteckt, ist auch nicht automatisch für immer durch und kann sich durchaus nochmal infizieren. Will man das bewusst in Kauf nehmen?
Zumal gar nicht klar ist, welche Varianten noch auf uns zukommen. Es gibt bereits Hinweise, dass BA.5 wieder mehr krank machen könnte als die anderen Omikron-Subtypen.
Das ist nicht eindeutig. Ich kenne bislang keine klinischen Daten, die zeigen, dass wenn man sich mit BA.5 infiziert, eher schwer erkrankt, als wenn man sich mit BA.2 ansteckt. Es gibt nur Daten aus Tierversuchen, die zeigen, dass Hamster bei BA.5 etwas mehr Gewicht verlieren als bei anderen Omikron-Subtypen und sich Zellen wieder in den tieferen Lungenzellen verändern können. Alarmiert bin ich deswegen aber nicht. Wir reden hier immer noch über Omikron und nicht über so ein tödliches Virus wie Delta. Es ist aber natürlich möglich, dass sich in Zukunft eine Variante durchsetzt, die wieder deutlich krankmachender ist. Bis die Evolution des Virus abgeschlossen ist, dauert es sicherlich noch ein paar Jahre. Bei Omikron wird es nicht bleiben.
Egal, in welche Richtung sich das Coronavirus noch weiterentwickelt – ist auf einen gewissen Schutz durch bisherige Impfungen und Infektionen langfristig Verlass? Oder könnte es auch passieren, dass wir irgendwann wieder komplett ungeschützt sind?
Eine gewisse Grundimmunität kann das Virus nicht einfach so unterlaufen. Zwar hat sich Omikron so verändert, dass viele relevante Antikörper nicht mehr passen und man deshalb wieder anfälliger wird für eine Infektion. Es gibt aber auch noch die T-Zellen. Sie befinden sich in anderen Bereichen unseres Immunsystems und bekämpfen das Virus auf eine ganz andere Art und Weise. Dort ähnelt Omikron dem Ursprungsvirus auch noch zu rund 80 Prozent. Ich bin deshalb optimistisch, dass das Virus der Abwehr nicht komplett entgeht und damit auch nicht den Immunschutz vor schwerem Covid-19 unterläuft.
Und neben der Impfung gibt es inzwischen auch Medikamente.
Wir sind bei der Behandlung von Covid-19 wirklich besser geworden. Es gibt zum Beispiel das Medikament Paxlovid. Es ist wichtig, dass hausärztliche Praxen ihre Patienten und Patientinnen mit erhöhtem Covid-Risiko direkt ansprechen und ihnen sagen, dass sie sich bei einer Corona-Infektion sofort bei ihnen melden sollen. Denn das Mittel wirkt innerhalb von fünf Tagen nach Symptombeginn am besten.
Trauen Sie sich eine Prognose zu, wo wir im Frühjahr 2023 stehen könnten, was Corona angeht?
Auf jeden Fall haben wir dann wieder den Winter mit deutlich mehr Corona-Infektionen hinter uns. Ich hoffe, dass wir besser durchkommen als in den Vorjahren. Und wenn wir bis zum Frühjahr vergleichsweise wenig Maßnahmen treffen mussten und BA.5 bis dahin dominant bleibt, könnte ich mir schon vorstellen, dass wir in einer endemischen Phase angekommen sind. Das heißt: Es würde weiter Infektionen und Todesfälle geben. Man kann sich weiter schützen – mit Impfungen, Masken, Tests und Abstand. Aber es müsste keine Lockdowns und gesamtgesellschaftlichen Maßnahmen mehr geben, um gegenzusteuern.