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„Die Performance seines Lebens“Wie Selenskyj die Massen erreicht – und begeistert

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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht hier am 99. Tag der russischen Invasion und des Krieges in der Ukraine.

Kiew – Gerade erst sprach er in Luxemburg. Vor sich, auf dem Rednerpult, ein Strauß kleiner Sonnenblumen, über die er hinweg sah in diesen Saal mit mächtigen Vorhängen, dem ausladenden Kronleuchter, in die Runde der Abgeordneten. Draußen, vor der Chamber, dem Parlament des Großherzogtums, klatschten 150 Unterstützerinnen und Unterstützer ihrem Präsidenten Beifall. „Ich unterstütze ihn, aber vor allem auch, was er sagt und seine Ideen“, zitiert die Lokalzeitung einen 44-Jährigen namens Oleksandr.

Nein, Wolodymyr Selenskyj war an diesem Donnerstag natürlich nicht selbst in Luxemburg, er konnte es nicht sein, er hielt seine Rede per Videoschaltung. Aber das noch immer Erstaunliche ist, dass dies kaum einen Unterschied zu machen scheint. Dass er und seine Worte kaum mächtiger wirken könnten, wäre er selbst hier anwesend – physisch, real.

Mit Luxemburger Lokalkolorit

Der virtuelle Auftritt des ukrainischen Präsidenten in Luxemburg war einer seiner kleineren, weniger beachteten – aber er nutzte all seine rhetorischen Strategien so, wie er es auch bei seinen Reden vor dem Bundestag, vor dem US-Kongress oder den Filmfestspielen in Cannes tat. Selenskyj verfolgte offensiv ein klares strategisches Ziel, hier: für die Aufnahme seines Landes in die Europäische Union zu werben.

„Die Ukraine“, erklärte er, sei „bereits de facto Mitglied der EU geworden.“ Er scheute, wie stets, vor Pathos nicht zurück, warnte vor den „dunklen Stunden, die wir bereits im Zweiten Weltkrieg erlebt haben“. Und er stellte sich auf seine Zuhörer ein. „Mir wëlle bleiwe wat mir sinn“, besagt ein luxemburgisches Sprichwort, „wir wollen bleiben, was wir sind“. In Anspielung darauf betonte er, die Tyrannei müsse verlieren, „damit Europa bleiben kann, was es ist“. Eine Rede mit Lokalkolorit.

Mehr als 150 Reden in 100 Tagen

Wolodymyr Selenskyj ist der Präsident eines überfallenen Landes, in dem Menschen unfassbaren Gräueln zum Opfer fallen, in dem sie zu Tausenden gequält, gefoltert und ermordet werden. Man kann wohl kaum ermessen, in welcher psychischen Ausnahmesituation er sich befindet, wie nah an völliger Verzweiflung und Erschöpfung der 44-Jährige sein muss. Aber wenn man ihn und seine Auftritte einmal an den kühlen Maßstäben gelungener politischer Kommunikation und rhetorischen Handwerks unter den Bedingungen einer neuen Medienwelt messen will, muss man sagen: Besser geht es wohl nicht.

Mehr als 150 Reden hat Wolodymyr Selenskyj in den 100 Tagen seit Ausbruch des Krieges gehalten (die wichtigsten sind gerade sogar als Buch erschienen), mehr als eine pro Tag also. Er hat sein Land nicht ein Mal verlassen und scheint doch allgegenwärtig – mehr als es vor der Verbreitung von Zoom, Teams und all den anderen Videoplattformen je möglich gewesen wäre. Er kämpft mit Worten, im Stil eine Mischung aus klassischem Rhetoriker und modernem Influencer.

„Die Performance seines Lebens“

Dass die Ukraine als Nation geeint ist und viele westliche Länder Waffen liefern: Alles das ist ganz maßgeblich auch das Werk des Redners Selenskyj. Dies sei „die Performance seines Lebens“, so hat es der ukrainische Historiker Andrij Portnow über ihn gesagt.

Die Liste seiner ikonischen Auftritte ist dabei lang, seine Reden werden wahrscheinlich auch diesen Krieg überdauern. „Sie sind durch eine Mauer von uns getrennt“, hielt er den Abgeordneten im Bundestag vor, wohl wissend, welchen Klang das Wort Mauer hier hat. Den US-Präsidenten Joe Biden bat er in seiner Rede vor dem US-Kongress, nicht nur der Anführer seines Landes, sondern der Welt zu sein – und konnte dabei sicher sein, dass Leadership genau das ist, was kein US-Präsident ausschlagen kann.

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In Cannes sehnte er sich nach einem neuen Charlie Chaplin, der die Diktatoren das Fürchten lehrt, in Davos wiederum überragte er all die Wirtschaftsvertreter, die sich doch selbst schon für so groß halten. Es war wohl nur eine Rede, die ihm eher missglückte: in Israel, als er die Invasion der Ukraine mit der „Endlösung“ Nazideutschlands verglich. Aber das blieb die Ausnahme, so provokant seine Reden oft waren. Am Ende war da immer Applaus.

„Wir sind hier!“

All das wäre kaum denkbar, wäre Selenskyj nicht der Schauspieler, als der er vor der Politik Erfolg hatte. Die Stimme, die Mimik, die Körpersprache, all das weiß er in den Dienst seiner Worte zu stellen. Als er am Morgen nach Kriegsbeginn sein Video aus Kiew in sein Land schickte, als er sich und seine Mitarbeiter mitten in Stadt zeigte und mit fester, tiefer Stimme versicherte: „Wir sind hier!“, da war dies eine der wirkungsvollsten Waffen, die in diesem Krieg bislang eingesetzt wurden.

Bei all dem ist der ukrainische Präsident der vielleicht ungewöhnlichste Profiteur der Pandemie – denn ohne unsere Gewöhnung an Videokonferenzen und zugeschalteten Sprechenden wären wohl auch seine Auftritte in den Parlamenten der Welt kaum denkbar. Wir würden vielleicht staunen über die technischen Möglichkeiten, das Medium selbst hätte all die Aufmerksamkeit – so aber, nach zwei Jahren virtueller Treffen mit grobkörnigen Bildern, erscheint uns der Auftritt aus Kiew wie selbstverständlich.

Trotz räumlicher Trennung Resonanz herstellen

„Gute Rhetorik hängt immer davon ab, ob es gelingt, eine Anpassung ans Publikum vorzunehmen“, sagte Olaf Kramer, Professor für Rhetorik und Wissenschaftskommunikation an der Universität Tübingen, vor Kurzem in einem Interview mit dem SWR. Diese Anpassung an regionale Gegebenheiten und die spezifischen Zuhörer, „das ist etwas, das Selenskyj sehr gut hinbekommt“.

Dazu kämen die Nutzung der technischen Veränderungen durch die Corona-Pandemie, die Kleidung, die Fähigkeit, sich trotz räumlicher Trennung auf die Zuhörerinnen und Zuhörer einzustellen und so etwas wie Resonanz herzustellen: All das lasse Wolodymyr Selenskyj authentisch wirken und gebe uns allen das Gefühl, ihm nahe zu sein.

Putin, der Schweiger

Und Wladimir Putin dagegen? Sei „der große Schweiger“, wie Kramers Kollege Dietmar Till, Professor für Allgemeine Rhetorik in Tübingen, es formuliert. „Ein Modell, das vom Hof kommt: Der Fürst kommuniziert eben nicht.“ Der demokratische gewählte Präsident aber, Selenskyj, müsse kommunizieren – und das tut er.

In Luxemburg durfte Wolodymyr Selenskyj am Ende seiner Rede jedenfalls ganz auf seiner Seite wissen. Man werde alles dafür tun, dass die Ukraine die Bedingungen für einen EU-Beitritt der Ukraine so schnell wie möglich erfüllt, versprach Premierminister Xavier Bettel. Europa, fügte er hinzu, sei die Zukunft auch für die Ukraine. (rnd)