Die Berlinale startet mit „Oppenheimer“-Star Cillian Murphy und dem Kirchendrama „Small Things Like These“ - schwere Kost zum Auftakt.
Eröffnung der BerlinaleCillian Murphy verzweifelt für uns an der schlechten Welt
Morgens um halb neun Uhr ist die Kinowelt noch in Ordnung: Eine Traube von geduldigen Filmfreunden hat sich zu dieser frühen Stunde hinter den Absperrungen am Hintereingang des Hyatt-Hotels versammelt. Die Hardcore-Fans am Potsdamer Platz müssen an diesem Donnerstag noch mehr als zwei Stunden warten. Dann erst wird die Berlinale-Jury um Präsidentin und Schauspielerin Lupita Nyong'o („12 Years a Slave“) hier hineinschlüpfen und Fragen zu ihrem Job in den nächsten eineinhalb Wochen beantworten. Klar aber ist in diesem Moment: Die Vorfreude der Berliner und Berlinerinnen auf die 74. Internationalen Filmfestspiele ist riesig.
Das Rede-und-Antwortspiel vor der internationalen Filmpresse später betrifft gar nicht so sehr das Kino, sondern das Politische: Zur AfD, zu Putin, zur Rolle Afrikas sollen die sieben Jury-Mitglieder Stellung beziehen und drucksen bald ziemlich herum. Bis dem deutschen Jury-Mitglied Christian Petzold der Kragen platzt: „Auch wenn Filme politisch sind, wäre ich gern mal auf einem unpolitischen Festival“, sagt Regisseur Petzold („Roter Himmel“). Schließlich sei er hier, um 20 Wettbewerbsfilme zu schauen - und am Ende den Goldenen Bären zu vergeben.
Christian Petzold platzt während der Pressekonferenz der Kragen
Petzolds Ausbruch verwies auf die politisch aufgeladene Stimmung, die die Berlinale wohl bis zum Ende begleiten wird. Dabei lässt sich inzwischen doch auch mal schauen, wie der Eröffnungsfilm angekommen ist.
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So ein Eröffnungsfilm hat ganz bestimmte Anforderungen zu erfüllen. Er darf nicht zu lang sein. Das passt schon mal: „Small Things Like These“ dauerte am Donnerstagabend kaum länger als ein Sonntags-„Tatort". Er sollte mindestens einen Star auf den roten Teppich bringen. Auch das war gesichert: Hauptdarsteller Cillian Murphy macht sich gerade als Atombomben-Physiker in „Oppenheimer“ Oscar-Hoffnungen. An seine Seite gesellten sich Emily Watson als unbarmherzige Schwester Oberin und US-Schauspieler Matt Damon, hier allerdings in seiner Funktion als Filmproduzent.
Ein Eröffnungsfilm sollte sein Publikum auch mit halbwegs guter Laune entlassen. Schließlich müssen beim obligatorischen Empfang danach Häppchen und Sekt munden. Und genau da beginnen die Zweifel an „Small Things Like These“: Der Film des belgischen Regisseurs Tim Mielants ist eine niederdrückende Angelegenheit.
Ein Mann trägt den Schmerz eines ganzen Landes auf seinen Schultern: Der irische Kohlenhändler Bill Furlong (Cillian Murphy) bricht Mitte der 1980er Jahre beinahe unter der emotionalen Last zusammen, die er sich neben den schweren Säcken aufbürdet. Er muss sich entscheiden, die übermächtige Katholische Kirche herauszufordern und damit das Wohl seiner eigenen Familie zu riskieren. Zunächst aber wird der treusorgende Vater von fünf Töchtern einen auch im Film langwierigen Kampf mit sich selbst ausmachen, bevor er sich dem Leid im Magdalenen-Heim oben auf dem Berg entgegenstellt.
Bei diesen Heimen handelt sich um eine bis heute schwärende nationale Wunde in Irland, um ein „kollektives Trauma“, wie der Ire Murphy in Berlin sagte. Bis zu 30.000 junge Frauen mit nach kirchlichem Maßstab zweifelhaftem Lebenswandel wurden während der 150-jährigen Geschichte dieser Besserungsanstalten ausgebeutet. Sie waren unverheiratet schwanger geworden, ihre Babys wurden an reiche Adoptiveltern verkauft, vielfach in die USA. Viele in den Heimen geborene Kinder starben. Noch Jahre später wurden Gräber entdeckt. Das letzte Heim wurde erst 1996 geschlossen.
Claire Keegan hat die gefeierte irische Romanvorlage „Kleine Dinge“ verfasst
Die irische Schriftstellerin Claire Keegan hat die gefeierte Romanvorlage „Kleine Dinge“ (Steidl Verlag) verfasst. Regisseur Mielants bleibt nahe dran. Aber was als Buch funktioniert, muss im Film nicht unbedingt richtig sein. Schmerzensmann Furlong wird um Weihnachten beim Ausliefern seiner Kohle im Kloster Zeuge des Unrechts.
Auch alle anderen in der Stadt wissen offenbar davon, aber sie schauen weg. Furlong kann das nicht mehr. Als Kind einer unverheirateten Mutter hätte er selbst in einem dieser Heime landen können. Murphys um Anstand und Mut ringender Kohlenhändler steht unter unerträglichem seelischem Druck. Abends schrubbt er sich die rußigen Hände beinahe blutig: Ein Gefühl von Sauberkeit stellt sich nicht ein. Ein guter Mensch verzweifelt an einer schlechten Welt.
Das Problem dabei: Murphy bewegt sich mit einer einzigen Gemütslage durch diesen mit zahlreichen Rückblenden zumindest anfangs holprig erzählten Film. Momente der Erleichterung, der Ablenkung? Wir beobachten den Kohlenhändler beim Dauerschweigen. Packender hat Regisseur Peter Mullan 2002 in „Die unbarmherzigen Schwestern“ aus der Perspektive der weggesperrten Mädchen von den Verbrechen in den Magdalenen-Hemen erzählt.
Ob dieser Film auch ohne „Oppenheimer“-Star Murphy eine Chance auf die Pole-Position im Wettbewerb gehabt hätte? Die Entscheidung für „Small Things Like These“ passt zu einer verunsicherten 74. Berlinale, die zwischen all den auf sie einprasselnden, oft gegensätzlichen politischen Forderungen ihren eigenen Weg sucht.
Mit diesem Helden im Büßergewand konnte sie wenig falsch machen. Der Film ist eine dringliche Aufforderung an jeden und jede, die Stimme gegen Unrecht zu erheben. Gegen dieses Plädoyer für Menschlichkeit dürfte niemand Widerspruch erheben. Vielleicht inspiriert der irische Kohlenhändler ja sogar die deutsche Filmprominenz von Iris Berben über Lars Eidinger bis zu Veronica Ferres und Jella Haase, die sich für den späten Donnerstagabend zum Feiern angekündigt hatte.