Es brodelt in RusslandLokalpolitiker in Großstädten stellen sich offen gegen Putin
- Gefahr für Russland, marode Wirtschaft und Militarisierung der Ukraine: Laut russischen Regionalpolitikern schadet Putins Krieg in der Ukraine Russland mehr als es dem Land nützt.
- Einige fordern den Rücktritt Putins, andere rufen die Staatsduma dazu auf, den Kremlchef wegen Hochverrats anzuklagen.
„Alles ist schief gelaufen“, kritisieren Vertreter des Moskauer Stadtbezirks Lomonosovsky Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Das BIP habe sich nicht wie versprochen verdoppelt, der Mindestlohn sei nicht wie erwartet gestiegen und viele intelligente und fleißige Menschen würden Russland in Scharen verlassen. Sie fordern den russischen Präsidenten daher zum Rücktritt auf.
Das geht aus dem Protokoll und dem 30-minütigen Video hervor, das sie auf der Webseite des Bezirks veröffentlicht haben. „Russland wird wieder gefürchtet und gehasst, und wir bedrohen die Welt erneut mit Atomwaffen“, kritisieren die Lokalpolitiker.
Sie weisen darauf hin, dass laut Studien Menschen in Ländern mit einem regelmäßigen Machtwechsel besser und länger leben als in Ländern, in denen das Staatsoberhaupt „nur auf dem Kopf stehend das Amt verlässt“.
Ein Einzelfall sind die Bezirksvertreter aus Lomonosovsky nicht. Nur wenige Tage vorher hatte bereits eine Gruppe russischer Regionalpolitiker gefordert, Putin wegen Hochverrats anklagen zu lassen.
Mit einem entsprechenden Vorschlag wollen sich Politiker des St. Petersburger Regionalbezirks Smolninskoje an die Abgeordneten der russischen Staatsduma wenden. Ein entsprechendes Dokument, das von den sieben Stadtabgeordneten gebilligt worden sei, veröffentlichte der Abgeordneten Dmitri Paljuga auf Twitter.
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In dem Papier erheben die Politiker eine Reihe von Vorwürfen gegen den Kremlchef. So gefährde Putins Befehl zur „Militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine „die Sicherheit Russlands und seiner Bürger“, heißt es dort. Einsatzfähige Einheiten der russischen Armee würden zerstört, arbeitsfähige Bürgerinnen und Bürger würden sterben oder invalide werden.
„Die russische Wirtschaft leidet“, beklagen die Abgeordneten. „Die Unerreichbarkeit ausländischer Komponenten, der Rückzug von Unternehmen und ausländischen Investoren, die Migration der gebildeten Bevölkerung“ – all das könne nicht spurlos am Wohlstand der russischen Bevölkerung vorübergehen, heißt es weiter.
Aggressive Rhetorik
Ähnlich äußerten sich auch die Politiker aus dem Moskauer Randbezirk. In ihrem Protokoll warfen sie Putin vor, mit seiner aggressiven Rhetorik Russland in die Zeit des Kalten Krieges zurückgeworfen zu haben. Der Kremlchef behindere die Entwicklung des Landes. „Legen Sie Ihr Amt nieder“, forderten sie.
Der Zeitpunkt der Kritik ist günstig gewählt, denn am Wochenende fanden in Russland Regional- und Kommunalwahlen statt. In mehr als 80 Regionen Russlands wurden Gouverneure, Regionalparlamente und Stadtteilvertretungen neu bestimmt. Beobachter gehen jedoch davon aus, dass die Kremlpartei Geeintes Russland einen deutlichen Sieg einfahren wird.
Die Politiker aus dem Raum St. Petersburg erklärten nach ihrer Veröffentlichung, sie wollten den Menschen zeigen, dass es Abgeordnete gibt, die mit dem aktuellen Kurs nicht einverstanden sind. „Wir glauben, dass Putin Russland schadet“, sagte der Abgeordnete Paljuga der russischen Investigativplattform „The Insider“. „Wir wollen den Leuten zeigen, dass wir keine Angst haben, darüber zu sprechen.“
„Schlag ins Gesicht“
Auch in russischen Telegram-Kanälen mehren sich die kritischen Stimmen. Im Kanal „Rybar“ mit etwa 700.000 Mitgliedern wird dem Kreml vorgeworfen, im Informationskrieg versagt zu haben. Tagelang habe Russland verheimlicht, wie schlimm es tatsächlich um die Front in Charkiw stehe. Einige sprechen von „Verrat“. Hintergrund ist die blitzartige Großoffensive im Osten der Ukraine, die Russland offenbar völlig überrascht hat.
Verteidigungslinien werden eingerissen, russische Truppen überrannt und eingekesselt. Russische Staats- und Regierungsvertreter hatten die Verluste über mehr als eine Woche heruntergespielt und von „abgelegenen Dörfern“ und „erfolglosen Versuchen“ der Ukrainern gesprochen.
Jetzt die Realität zu sehen, sei ein „Schlag ins Gesicht“, so ein Militärblogger auf Telegram. Damit ist er nicht allein – viele Blogger und Social-Media-Nutzer sprechen längst offen von der „Inkompetenz des russischen Militärs“, berichtet der Militär-Thinktank „Institute for the Study of War“.
Vorladungen erhalten
Die sieben Abgeordneten aus dem St. Petersburger Stadtbezirk erhielten kurz nach Veröffentlichung der Forderung, Putin des Hochverrats anzuklagen, Vorladungen.
Darin wurden sie aufgefordert, am nächsten Tag bei der Polizei vorstellig zu werden, da gegen sie nun wegen Verunglimpfung der russischen Streitkräfte Anklage erhoben werden soll. In der Vergangenheit wurden immer wieder Politiker festgenommen, die gegen Putin oder den Krieg gegen die Ukraine protestiert hatten.