- Wissenschaft und Politik pflegen in der Pandemie ein angespanntes Verhältnis – das zeigt sich auch beim Gerangel um den neuen Inzidenzgrenzwert.
- Lesen Sie hier die Hintergründe.
Unter den Regierungschefs der 16 Bundesländer herrschte zu Beginn der Woche Erleichterung. Diesmal, so sagte einer der Teilnehmer mit Blick auf die Ministerpräsidentenkonferenz am Mittwoch, seien im Vorfeld keine Wissenschaftler eingeladen, die wie bei vormaligen Treffen den Ministerpräsidenten lange Vorträge gehalten hätten. Die Erleichterung wirft ein Schlaglicht auf das Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der Corona-Pandemie, das von Anfang an schwierig war – und schwierig bleiben wird.
Gleich zu Beginn im Frühjahr 2020 bildeten sich ja zwei Pole heraus. Die Seite derer, die vor dem Virus warnten und zu durchgreifenden Maßnahmen rieten, führte der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité an. Den Gegenpol bildete sein Kollege Hendrik Streeck, bekannt geworden durch die Heinsberg-Studie. Auf Drostens Seite kämpften später zunehmend sichtbar Melanie Brinkmann und Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Zentrum. Zu Streeck gesellte sich der Virologe Klaus Stöhr.
Die Bundesregierung nahm die Wissenschaft rasch in Dienst. Wo Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) weilte, war Drosten nicht weit. Merkel, selbst Physikerin, ließ bei Ministerpräsidentenkonferenzen unter anderem Meyer-Hermann und Brinkmann sprechen. Nur: An dem Spannungsverhältnis hat das nichts geändert.
Meyer-Hermann zeigte sich im Oktober enttäuscht über die damalige Bund-Länder-Runde. „Wir haben Zeichen, dass das Virus sich gerade unkontrolliert ausbreitet“, sagte er im ZDF und habe deshalb bei der Ministerpräsidentenkonferenz eine „große Warnung“ ausgesprochen. „Die Maßnahmen, die erfolgt sind, sind nicht die, die ich mir erhofft hatte“, bedauerte Meyer-Hermann anschließend.
Brinkmann, die nun ebenso wie Meyer-Hermann einen No-Covid-Kurs verfolgt und mit sieben anderen Expertinnen und Experten im Januar vorsprach, löste bei der Runde Animositäten aus. „Die Stimmung war angespannt, und sie war zum Teil gegen uns“, sagte sie dem „Spiegel“ – um in dem Interview ihrerseits kein Blatt vor den Mund zu nehmen. „Viele sind wirklich bemüht, aber es gibt Teilnehmer in diesen Runden, die sind nicht richtig im Thema“, monierte die 47-Jährige. „Offensichtlich müssen manche Leute erst mit der Realität konfrontiert werden, bis sie es begreifen.“
Demgegenüber stehen die Ministerpräsidenten, die nicht nur das Wünschbare, sondern auch das Machbare im Auge haben müssen. So beklagte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke), dass es sich Brinkmann mit ihrer Kritik und ihrem No-Covid-Kurs „sehr einfach“ mache. Denn es fehle eine Teststrategie. „Die kann ich auch beim Helmholtz-Zentrum nicht erkennen.“ Sein nordrhein-westfälischer Amtskollege Armin Laschet (CDU) tat bereits im vorigen Jahr kund: „Mir sagen nicht Virologen, welche Entscheidungen ich zu treffen habe.“ Welche Auswirkungen es für Kinder habe, lange zu Hause zu bleiben oder ob Menschen durch Arbeitslosigkeit depressiv würden, sei für seine Entscheidungen nämlich ebenso wichtig wie das Virus.
Lauterbach: Zahl „50“ ist gegriffen
Wie kompliziert die Sache ist, zeigt die laufende Debatte über die Zahl 35 als neues Ziel für die Zahl der binnen sieben Tagen gemeldeten Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner. Brinkmann sagt, die Inzidenz von 35 sei als Obergrenze „wissenschaftlich nicht fundiert“. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach räumt ebenfalls ein, die Zahl sei ebenso wie die Zahl 50 letztlich „gegriffen“. Trotzdem kommt sie nicht von ungefähr. Lange hatte man die 50 als Grenzwert begriffen, jenseits dessen es den Gesundheitsämtern schwerfalle, Kontakte nachzuverfolgen. 35 galt als der Wert, ab dem weitergehende Lockerungen möglich seien. Im Lichte neuer, ansteckenderer Mutanten sei die 35 nun „die neue 50“, so SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach.
Nach Expertenmeinung könnte der neue Grenzwert bereits Anfang März erreicht sein. Voraussetzung sei, dass Maßnahmen weiter eingehalten würden, sagte der Gießener Virologe Friedemann Weber der Deutschen Presse-Agentur. Die Mathematikerin Maria Barbarossa vom Frankfurt Institute for Advanced Studies erklärte: „Unsere optimistischsten Vorhersagen zeigen, dass wir bereits in zwei Wochen die 50er-Inzidenz erreichen können.“ Bis zum 7. März könnten sich die Zahlen in Richtung der 35 entwickeln – vorausgesetzt, alles bleibe zu. Am Donnerstagmorgen lag die Inzidenz bundesweit bei 64,2.