Vor dem Wolfsgipfel am Freitag fordert die Union, die Tiere häufiger zu erschießen. Löst das die Probleme der Landwirte? Ein Gespräch mit dem Wolfsexperten Frank Fass.
Interview vor dem Wolfs-Gipfel„Auch wenn wir 10 Prozent der Wölfe abschießen, reißen die übrigen weiterhin Weidetiere“
Ursula von der Leyen war sehr „mitgenommen“, wie sie mittteilte. Im September 2022 riss ein Wolf ihr Pony Dolly. Auch viele Landwirte haben Angst um ihre Tiere. Frank Fass leitet mit seiner Frau das Wolfcenter in Dörverden (Niedersachsen). Bis 2018 beriet er das niedersächsische Umweltministerium zum Wolfsmanagement. Im Interview erklärt Fass, wieso es mehr Wölfe in Deutschland geben sollte und der Staat Schäferinnen und Schäfer stärker unterstützen sollte.
Herr Fass, viele Menschen haben Angst, mal auf einen Wolf zu treffen. Ist die Befürchtung berechtigt?
Frank Fass: Es ist nicht unwahrscheinlich, mal einem Wolf zu begegnen. Besonders junge Tiere können neugierig sein. Angst vor der Begegnung braucht aber niemand zu haben. Solange Menschen nicht vor dem Wolf wegrennen, wird er nicht besonders nahe kommen. Rennen Menschen, kann es sein, dass der Wolf ihnen folgt. Seit den 1950er-Jahren gab es nur 127 Angriffe auf Menschen, 107 davon wurden durch tollwütige Wölfe verübt. Greift ein Wolf einen Menschen an, wird dieser selbstverständlich abgeschossen.
Eltern, die Angst um ihre im Garten spielenden Kleinkinder haben, wird die Anzahl der Angriffe wahrscheinlich wenig beruhigen. Jeder Angriff auf das eigene Kind wäre einer zu viel – egal, ob der Wolf tollwütig war oder nicht. Was sagen Sie denen?
Ich habe selbst eine Tochter und hätte ihr niemals verboten, im Garten zu spielen. Eltern sollten sich, meiner Meinung nach, nicht zu viele Sorgen machen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Wolf das eigene Kind angreift, ist verschwindend gering. Man kann Kinder nun mal nicht vor allen eventuell möglichen Gefahren schützen. Nur weil es wieder mehr Wölfe gibt, sollte niemand sein Verhalten ändern.
In Deutschland leben laut Bundesumweltministerium 161 Wolfsrudel. Der Deutsche Bauernverband schätzt 1500–2700 Tiere. Sind das zu viele?
Nein, es sind sogar zu wenige. Damit der Wolf sicher nicht ausstirbt, bräuchte es noch mehr Tiere. Das Bundesamt für Naturschutz errechnet, wie viele Wölfe es bräuchte, damit die Art wahrscheinlich in Deutschland erhalten bleibt. Demnach gibt es aktuell noch nicht genug Tiere.
Trotzdem sei der Wolf in Deutschland nicht mehr gefährdet, meint der Deutsche Bauernverband.
Für Bauern ist jeder Wolf einer zu viel, weil er ein Nutztier reißen könnte. Sie sind nun mal Unternehmer. Der Wolf ist eines von vielen wirtschaftlichen Risiken, die sie in ihrer Planung berücksichtigen müssen. Ich bin im Umfeld der Milchviehbetriebe groß geworden und verstehe die Haltung des Verbandes gefühlsmäßig natürlich. Aber mit Blick auf die Natur ergibt die Einstellung keinen Sinn.
Ist die Angst der Bauern nicht trotzdem berechtigt?
Die Sorge der Bauern um ihre Tiere ist natürlich plausibel. Aber wir müssen uns entscheiden, ob wir Artenschutz wollen oder nicht. Solange der Wolf hier lebt, werden gelegentlich Weidetiere gerissen.
Viele Bäuerinnen und Bauern fordern, dass Wölfe häufiger abgeschossen werden. Weniger Wölfe würden auch weniger Weidetiere reißen. Wäre das nicht eine gute Lösung?
Ich bin diese Diskussion leid. Auch wenn wir 10 Prozent der Tiere abschießen würden, würden die übrigen 90 Prozent weiterhin Weidetiere reißen. Es führt kein Weg daran vorbei, dass die Bauern ihre Tiere einzäunen.
Können sich denn alle Bauern die teuren Elektrozäune leisten?
Berufsschäfer sollte der Staat viel stärker unterstützen. Aktuell übernimmt der Staat Materialkosten für Zäune. Müssen sich Schäfer aber einen Trecker mit Ramme und Personal leihen, um diese aufzustellen, zahlen sie das selbst. Auch das Futter für Herdenschutzhunde müssen die Schäfer komplett selbst zahlen. Nicht alle gewerblichen Tierhalter können sich deshalb gut vor dem Wolf schützen. Deshalb sollte der Staat mehr Verantwortung zeigen.
Das Bundesamt für Naturschutz empfiehlt 1,20 Meter hohe Zäune. Wölfe können aber über drei Meter hoch springen. Ist die Empfehlung nicht viel zu niedrig?
Wölfe springen nur ganz selten höher als 1,20 Meter, das ist sehr gut erforscht. Die Tiere sind extrem vorsichtig. Wichtiger als die Höhe ist, dass die Zäune tief genug sind, damit sich die Wölfe nicht darunter durchgraben. Leider stellen viele Bauern und Schäfer die Wolfszäune nicht richtig auf. Besonders einige Hobbyschäfer laden den Wolf mit ihren schlechten Zäunen geradezu ein, ihre Tiere zu reißen.
Einige Tierhaltende fordern, Tiere schon abzuschießen, wenn sie sich einer Herde nähern. Sie argumentieren, die anderen Tiere des Rudels würden daraus lernen und sich von Tierherden fernhalten. Was sagen Sie dazu?
So ein vorsorglicher Abschuss wäre komplett wirkungslos. In Niedersachsen, wo ich wohne, gibt es an jeder Ecke eine Tierherde. Die können ja nicht alle dauerhaft mit dem angezogenen Gewehr bewacht werden. Man kann das Blatt drehen und wenden, wie man will – es braucht mehr Zäune.
Teure Zäune, Angst um Tiere und Kinder – wäre der Mensch ohne den Wolf nicht besser dran?
Dann können wir gleich aufhören mit dem Artenschutz. Die Rückkehr des Wolfes ist ein großes Glück: Er hat sich von ganz alleine, ohne dass ihn jemand ausgewildert hat, wieder hier angesiedelt. Nur weil der Wolf jetzt für Konflikte sorgt, sollte man ihn nicht wieder ausrotten. Deutschland gehört zu den reichsten Ländern der Welt, da sollte Umweltschutz nicht am Geld scheitern.
Artenschutz klingt erstmal immer gut: Bienen sollten zum Beispiel erhalten bleiben, damit sie Pflanzen bestäuben, die der Mensch isst. Aber der Wolf nützt dem Menschen ja nicht in ähnlicher Weise.
Wölfe helfen Jägern, indem sie Rehe und Wildschweine reißen. Gäbe es zu viele Wildschweine, würden sie viele Schäden auf den Feldern anrichten. Rehe können im Forst etliche Schäden anrichten, wenn es zu viele gibt. Außerdem ist die Natur auch unabhängig davon, wie der Mensch sie nutzen kann, wertvoll. Was wäre die Welt ohne bunte Schmetterlinge, Hummeln und Salamander?