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Interview mit Friedrich Merz„Die Lage aus dem Jahr 2015 darf sich nicht wiederholen“

Lesezeit 11 Minuten
Merz Düsseldorf GI

Der CDU-Politiker Friedrich Merz polarisiert.

  1. Der CDU-Politiker Friedrich Merz bewirbt sich um den Parteivorsitz und steht damit in Konkurrenz zu NRW-Ministerpräsident Armin Laschet.
  2. Im Interview spricht er über das schlechte Abschneiden der CDU in einigen NRW-Großstädten, die Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria, Maßnahmen gegen den Klimawandel und den politischen „Hauptgegner“ der CDU: die Grünen.

Herr Merz, Armin Laschet stammt von Karl dem Großen ab und hatte als Jugendlicher ein Solidarność-Poster in seinem Zimmer hängen. Können Sie das toppen?

Mit Vorfahren aus großen deutschen Kaiserhäusern kann ich leider nicht dienen. Ich stamme aus einer ganz normalen bürgerlichen Familie in Westfalen, mit eingewanderten Hugenotten aus Frankreich als Vorfahren mütterlicherseits. Politische Poster gab es in meinem Jugendzimmer auch nicht, da hingen Jimi Hendrix und The Who.

Wirklich gar nichts Politisches?

Alles zum Thema Armin Laschet

Das kam erst später. 1972 bin ich in die CDU eingetreten und später Vorsitzender der Jungen Union in meiner Heimatstadt Brilon geworden. 1975 gab es dieses starke Wahlkampfplakat der NRW-CDU: Junge Frau, grüne Boxhandschuhe und die Aufforderung „Komm aus Deiner linken Ecke“. Die hing dann eine Zeitlang auch in meinem Zimmer.

Herr Laschet konkurriert mit Ihnen um den CDU-Parteivorsitz und sieht sich nach der Kommunalwahl in NRW gestärkt. Teilen Sie diese Einschätzung?

Es war eines der schlechtesten Kommunalwahlergebnisse, das die CDU in Nordrhein-Westfalen jemals bekommen hat. Trotzdem ist es unter den heutigen Umständen auch ein gutes Ergebnis. Richtig beurteilen können wir es aber erst nach der Stichwahl in einer Woche. Ohne diese Stichwahl hätten wir jetzt schon einen grünen Oberbürgermeister in Aachen.

Warum nehmen die Grünen der CDU in Großstädten immer mehr Wähler ab?

Wir werden nicht besser, wenn wir den Grünen hinterherlaufen. Ich setze auf eigenständige, klare CDU-Positionen. Bevor wir über Koalitionen reden, kommt es erst einmal darauf an, den eigenen Standpunkt zu beziehen. In der Umweltpolitik, bei der inneren und äußeren Sicherheit, beim Thema Migration und in der Wirtschaftspolitik unterscheidet uns eine Menge. Die Grünen sind zurzeit unser Hauptgegner, wahrscheinlich auch bei der Bundestagswahl 2021.

Was halten Sie von der Einigung der Koalition, 1553 Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen?

Es geht um Familien, die als Flüchtlinge oder Asylbewerber anerkannt sind und vom griechischen Festland aus zu uns kommen. So lange es in Europa keinen funktionierenden Verteilmechanismus gibt, kann Deutschland einen Teil der anerkannten Flüchtlinge aufnehmen. Das überfordert uns nun wirklich nicht. Die Grünen wollten jetzt einfach mal so eben alle 13.000 Menschen aus Moria aufnehmen und damit die Dublin-Verordnungen gegen den Willen der griechischen Regierung außer Kraft setzen. Da muss man schon mal fragen: Habt Ihr eigentlich gar nichts aus 2015 gelernt?

Was ist denn die Lehre aus 2015?

Die Lehre ist, dass sich diese Lage nicht mehr wiederholen darf. Und dafür gibt es Regeln. Man kann den Griechen zu Recht vorwerfen, dass sie in den Lagern vollkommen menschenunwürdige Zustände hingenommen haben. Aber man kann ihnen nicht vorwerfen, dass sie sich bei der Migration an Recht und Gesetz halten. So lange es die Dublin-Verordnungen gibt, wonach Asylanträge im ersten Aufnahmeland gestellt und bearbeitet werden, müssen sie auch gelten.

Auch Ministerpräsidenten und Bürgermeister aus ihrer Partei haben die Aufnahme von Moria-Flüchtlingen und die Auflösung der Camps auf den Inseln gefordert.

Es kann nicht jedes Bundesland oder jeder Bürgermeister seine eigene Asyl- und Einwanderungspolitik machen. Denn die Kosten der Unterbringung wollen sie dann trotzdem alle vom Bund erstattet bekommen. Die Unterbringung der betroffenen Menschen muss anständig und menschenwürdig sein, und dazu können wir alle beitragen, auch an den Außengrenzen der EU.

Haben Sie eigentlich mal ein Flüchtlingslager auf einer griechischen Insel besucht?

Nein. Ich habe das noch vor, aber ich werde daraus keine Medienshow machen.

Glauben Sie noch an eine europäische Lösung des Problems?

Die Flüchtlingskrise ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Europa nicht lösbar, weil vor allem die Länder im Osten Europas eine Einigung auf einen Verteilungsschlüssel blockieren. Vielleicht gibt es mittelfristig Wege, wenigstens die Fluchtursachen gemeinsam zu begrenzen.

Würden Sie als Kanzler mit Ungarns Premierminister Viktor Orbán besser zurechtkommen?

Mit dem Start einer neuen Regierung werden auch die persönlichen Beziehungen der Staats- und Regierungschefs neu angelegt. Eines muss aber klar sein: Die Regeln in der EU gelten für alle gleich, und das schließt im umfassenden Sinn die Prinzipien des Rechtsstaats ein, Gewaltenteilung, unabhängige Gerichte, Pressefreiheit, Wissenschaftsfreiheit. So etwas wie eine „illiberale Demokratie“ gibt es nicht.

Braucht es ein Europa der zwei Geschwindigkeiten?

Die nach dem Brexit verbliebenen 27 Mitgliedstaaten werden nicht im Gleichschritt durch das 21. Jahrhundert gehen können. Schon heute haben wir den Schengen-Raum, die Euro-Zone, gemeinsame Verteidigungsprojekte, also unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit. In diese Richtung wird es weitergehen. Staaten, die sich bei einem Thema einig sind, schreiten voran und machen den anderen ein Angebot. Wer will, macht mit.

Beim Klimaschutz will EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den EU-Staaten 55 statt 40 Prozent Emissionsminderung bis 2030 verordnen. Finden sie das richtig?

Technisch ist das wahrscheinlich möglich. Aber nur mit reiner CO2-Vermeidung und etwas Aufforstung werden wir nach meiner Einschätzung so ehrgeizige Klimaziele nicht erreichen. Wir brauchen Technologien, mit denen wir das CO2 aus der Atmosphäre auch wieder herausbekommen. Das wäre zum Beispiel mit der CCS-Technologie, also mit Abscheidung und Rückführung oder Lagerung von Kohlendioxid möglich. Die halbe Welt forscht daran, in Deutschland gibt es nach wie vor starke Vorbehalte dagegen. Wir müssen offener für Technologien sein, übrigens auch bei der Stromerzeugung.

Wie meinen Sie das?

Wenn Deutschland bis 2050 klimaneutral sein soll, dann brauchen wir für die privaten Haushalte, für den Verkehrssektor und vor allem für die Transformation der Industrie sehr viel mehr Strom als heute, vermutlich mehr als das Doppelte der gegenwärtig installierten Leistung. Das ist mit Wind und Sonne allein nicht zu schaffen. Und meine sauerländische Heimat wird durch noch mehr Windräder jedenfalls nicht schöner.

Was bevorzugen Sie?

Es gibt sehr hoffnungsvolle Entwicklungen bei der Entwicklung neuer Technologien, zum Beispiel bei Wasserstoff, synthetischen Kraftstoffen und ganz neuen Kraftwerkstypen. Die Politik darf sich dabei nicht auf einzelne Technologien festlegen, sie muss Forschung und Entwicklung in alle Himmelsrichtungen ermöglichen.

Migration, Klima und vielleicht sogar Atomkraft – das klingt nicht nach einem schwarz-grünen Bündnis nach der nächsten Wahl.

Das Thema Atomenergie ist erledigt. Aber meine Beobachtung ist: Es gibt in Deutschland eine neue Bereitschaft, sich neuen Themen und auch neuen Technologien zuzuwenden, auch bei den Grünen.

Warum kommt der einstige CDU-Lieblingspartner FDP so schlecht auf die Füße?

Die FDP war durch die vier Jahre, die sie nicht im Bundestag war, personell stark ausgezehrt. Es war dann ein schwerer strategischer Fehler, im Jahr 2017 auf den Eintritt in die Regierung zu verzichten. Die Corona-Krise wäre eine neue Chance für die FDP gewesen. Es hätte eine Partei gebraucht, die vehement für die Bürger- und Freiheitsrechte und auch gegen überzogene Einschränkungen gestimmt hätte, statt dies den Verwaltungsgerichten zu überlassen. Eine FDP mit Burkhard Hirsch, Gerhard Baum und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hätte das wahrscheinlich so gemacht.

Ist die Regierung denn zu weit gegangen mit ihrer Corona-Politik?

Die Herangehensweise der Bundesregierung war, wie ich finde, im Grundsatz richtig. Es hätte vielleicht noch deutlicher werden müssen, dass die Wissenschaft nur berät und nicht entscheidet. Und die Grenzschließungen waren in der Rückschau kontraproduktiv, weil dadurch Anti-Corona-Maßnahmen auf lokaler Maßnahme eher behindert als bestärkt wurden.

Was muss passieren, wenn die Infektionszahlen im Winter explodieren sollten?

Dann müssen die Behörden punktuell und regional reagieren. Einen flächendeckenden Lockdown hält dieses Land ökonomisch wie psychologisch nicht ein zweites Mal aus.

Welche wirtschaftliche Entwicklung erwarten Sie?

Wir werden in einigen Branchen vermutlich eine schnellere Erholung sehen als befürchtet. Einige Branchen, wie zum Beispiel die gesamte Veranstaltungswirtschaft bis hin zur Automobilindustrie und deren Zulieferer, haben schwere Probleme, und die werden auch nicht über Nacht verschwinden.

Die CSU würde noch gerne eine Kaufprämie für Autos nachschieben.

Kaufprämien sehe ich unverändert skeptisch. Die Nachfrage zu stimulieren hilft nur kurzfristig und kostet immer viel Geld. Die Angebotsseite muss stimmen. Würde zum Beispiel mehr Geld in die Ladeinfrastruktur investiert, würde das die Attraktivität der Elektromobilität sehr viel stärker beschleunigen.

Den Zulieferern nutzt das nichts. Gewerkschaften und SPD wollen Zulieferern durch staatliche Beteiligung zu Liquidität verhelfen.

Die SPD war immer schon für Staatskapitalismus. Wenn Liquiditätshilfen gebraucht werden, gibt es bessere Möglichkeiten als eine direkte Staatsbeteiligung.

Gegen die Corona-Maßnahmen gibt es Demonstrationen, bei denen sich viele Gruppen ganz munter mit Rechtsextremen mischen. Warum gibt es da keine Distanz mehr?

Ich kann viele verstehen, die ihren Unmut und ihre Existenzängste wegen der Corona-Politik äußern wollen und die die Einschränkungen ihres privaten und beruflichen Lebens einfach leid sind. Es war ja auch zum Teil eine bunte Mischung von Leuten, die da mit Regenbogenfahnen und Reichsflaggen nebeneinander demonstriert haben. Jeder muss für sich entscheiden, ob er bei solchen Demonstrationen mitmachen möchte.

Gerade sind in NRW rechtsextreme Chatgruppen in der Polizei aufgeflogen. Haben Sie eine Erklärung?

Die Vorfälle in NRW haben mich schockiert, es gibt dafür keine Entschuldigung. Wenn es Zweifel an der Verfassungstreue einzelner Beamter gibt, muss mit allen Mitteln des Rechtsstaats durchgegriffen werden, und der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul tut dies ja auch. Die Gesellschaft darf jetzt aber nicht den Fehler machen, unsere Polizistinnen und Polizisten unter Generalverdacht zu stellen. Im Gegenteil, die Polizei braucht die klare Unterstützung der Politik und der Gesellschaft.

Auch in der Bundeswehr fallen immer wieder Rechtsextreme auf. Wäre die Wiedereinführung der Wehrpflicht ein Rezept dagegen?

Ich habe die Aussetzung der Wehrpflicht für falsch, zumindest für vorschnell gehalten, denn für die Bundeswehr ist dadurch etwa die Hälfte ihres Rekrutierungspotenzials weggefallen. Das hat natürlich auch ihren Charakter verändert. Die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht halte ich für erwägenswert, aber das ist verfassungsrechtlich nicht so einfach, und gesellschaftlich müssten wir auch darüber diskutieren. Im Übrigen müsste der Staat dann auch die Infrastruktur dafür bereithalten, um jedes Jahr 800.000 junge Frauen und Männer unterzubringen. Eine freiwillige Variante, wie von Frau Kramp-Karrenbauer vorgeschlagen, finde ich daher zunächst einfach praktikabler. Man könnte auch mit Anreizen arbeiten: Wer bei der Bundeswehr oder im sozialen Bereich Dienst für die Gemeinschaft leistet, könnte bei der Vergabe von Ausbildungs- und Studienplätzen bevorzugt werden.

Die FDP diskutiert auf ihrem Parteitag über eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Was halten Sie davon?

Dann sollten wir zugleich über die Absenkung des Alters für die volle Strafmündigkeit reden und über die der Volljährigkeit. Wer wählen darf, muss auch sonst Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Wenn es bei der Debatte nur darum geht, die eigenen Wählerstimmen zu erhöhen, dann ist es Populismus.

Der CDU-Vorstand hat sich diese Woche festgelegt, für CDU-Gremien eine Frauenquote einzuführen. Fühlen Sie sich daran gebunden?

Der Beschluss des Bundesvorstands bindet die Partei nicht. Es muss auf einem Parteitag dazu erst noch eine Satzungsänderung beschlossen werden. Dass die CDU zu wenige Frauen hat, ist objektiv ein Problem. Die Quote ist zur Lösung des Problems aus meiner Sicht nur die zweitbeste Lösung.

Was ist die bessere?

Wir müssen bessere Anreize für Frauen schaffen, CDU-Mitglied zu werden, zum Beispiel durch ein beitragsfreies erstes Jahr der Mitgliedschaft. Die Parteiarbeit ist auch noch zu sehr auf Männer ausgerichtet, zum Beispiel mit Sitzungen bis spätabends. Oft werden die wirklich wichtigen Gespräche hinterher beim Bier an der Theke geführt. Wer da aus Zeitgründen nicht mitmachen kann, hat das Nachsehen – und das sind leider zu oft Frauen. Da müssen wir was tun.

Also: Bier streichen?

Das wäre keine gute Idee. Besser wären familienfreundlichere Sitzungszeiten – oder gleich digitale Formate. Corona hat ja gezeigt, dass so etwas funktionieren kann.

Nach der Parteivorsitz-Wahl 2018, die Annegret Kramp-Karrenbauer gewonnen hat, waren viele ihrer Anhänger sehr enttäuscht. Wie wollen Sie es verhindern, dass es erneut eine Spaltung gibt?

Ich sehe im Falle meiner Wahl eine solche Spaltung nicht. Die Mehrheit der Parteimitglieder an der Basis wünscht sich eine klare Kursbestimmung. Und wenn ich Parteivorsitzender werde, ist Armin Laschet selbstverständlich als stellvertretender Vorsitzender in meinem Team.

Ein Parteivize-Posten wäre für Sie sicher auch drin.

Armin Laschet hat sich dafür entschieden, Jens Spahn als seinen Stellvertreter vorzuschlagen. Aber darüber denke ich ohnehin nicht nach. Ich setze auf Sieg, nicht auf Platz.

Aber jeder Kandidat hat doch die Verantwortung, dass die Partei sich nicht entzweit.

Deshalb habe ich vom Tag ihrer Wahl an Annegret Kramp-Karrenbauer unterstützt, wo immer sie das wollte.

Sie hätten ins CDU-Präsidium gehen können.

In das Präsidium der CDU „geht“ man nicht, dahin muss man gewählt werden. Und wenn ich kandidiert hätte, hätte Armin Laschet oder Ursula von der Leyen ihren Platz verloren. Ich wäre im Zweifel auch noch der gewesen, der eine Frau aus der CDU-Spitze herausdrängt.

Welchen Fehler von 2018 wollen Sie nicht nochmal machen?

Ich habe 2018 eine sehr ernsthafte Rede gehalten, weil ich angenommen habe, dass die Partei das erwartet. Ich habe verstanden, dass in einer solchen Rede auch ein paar Wunderkerzen vorkommen müssen. Also gibt es in diesem Jahr auch Wunderkerzen.

Das Gespräch führten Andreas Niesmann und Daniela Vates