- Vor gut einem Jahr haben sich Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken im Ringen um die SPD-Spitze durchgesetzt.
- Im RND-Interview erklärt der SPD-Chef, warum die Rettung der Sozialdemokratie mehr Zeit braucht, als er gehofft hat.
- Außerdem spricht er darüber, weshalb Olaf Scholz inzwischen mehr als ein Kollege für ihn ist und wieso Saskia Esken einen schwereren Stand hat als er selbst.
Herr Walter-Borjans, vor gut einem Jahr haben Sie sich zusammen mit Saskia Esken im Rennen um den SPD-Vorsitz durchgesetzt. Wie oft haben Sie inzwischen bereut, angetreten zu sein?
Bereut habe ich das nie. Im Gegenteil: Ich habe seitdem viele tolle Erfahrungen gemacht. Natürlich auch welche, die weniger positiv waren.
Was hat Sie besonders geärgert?
Geärgert ist das falsche Wort dafür, dass wir am Anfang auch mit Vorbehalten gegen uns zu tun hatten. Es war nicht leicht, die zu überwinden. Die Einsicht, dass die Wahl eines Führungsduos von außen einen wichtigen Beitrag zur Geschlossenheit der SPD leisten kann, die hat sich etwa in Teilen der Fraktion erst nach und nach durchgesetzt.
Was hat Sie am meisten gefreut?
Gefreut habe ich mich darüber, was wir alles im Koalitionsausschuss bewegen konnten – beim Klimaschutz, bei der Hilfe für Kommunen und Familien, beim ökologischen Umbau der Wirtschaft. In der Regierungspolitik ist die SPD-Handschrift sichtbarer geworden ist, seit Saskia Esken und ich die Partei führen. Außerdem glaube ich, dass wir in der Kultur des Zusammenarbeitens eine Menge bewirkt haben. Heute gibt es ein großes Vertrauen und einen engen Draht zwischen Parteispitze, Regierungsmitgliedern und Fraktion. Das war nicht immer so.
Sie und Saskia Esken haben sich erst im Amt richtig kennengelernt. Wie kommen Sie als Duo klar?
Saskia und ich haben eine große gemeinsame Schnittmenge an Zielen und Werten. Das war von Beginn an klar, sonst wären wir auch nicht zusammen angetreten. Natürlich sind auch wir in diesem Jahr durch einen Prozess gegangen und haben unsere jeweils eigenen Profile entwickelt.
In der Regierungs-SPD gelten Sie als ausgeglichener und zugänglicher als ihre Co-Vorsitzende. Spielen Sie mit getrennten Rollen?
Nein. Wir sind eigene Naturelle, und wir haben unterschiedliche Stile und Temperamente – bei gleichen Zielen. Das macht die Stärke eines Duos gerade aus. Wären wir exakt gleich, könnte es auch einer alleine machen.
Wird Saskia Esken strenger bewertet, weil sie eine Frau ist?
Frauen in Führungspositionen stehen anderen Herausforderungen gegenüber als Männer, das kann ich als Mann bestätigen. Damit hatten auch Andrea Nahles oder Hannelore Kraft zu kämpfen. Außerdem agiert Saskia Esken aus tiefer Überzeugung heraus und nicht aus der Sehnsucht nach schnellem Beifall. Beim Thema Rassismus und Polizei etwa hat sie frühzeitig auf ein Problem hingewiesen, über das heute das halbe Land diskutiert.
Zustimmungswerte von 30 Prozent und mehr hatte Saskia Esken im Siegestaumel versprochen. Sie haben den Anspruch formuliert, dass die SPD das linke Lager anführt. Haben Sie den Mund ein bisschen voll genommen?
An beiden Zielen halten wir fest. In Umfragen sagen 30 Prozent der Menschen, dass sie sich traditionell der SPD am meisten verbunden fühlen. Diese 30 Prozent will ich überzeugen, uns ihre Stimmen zu geben – und vielleicht noch ein paar mehr. Das ist das langfristige Ziel. Kurzfristig müssen wir mehrheitsfähig werden. Das ist das Ziel für die nächste Bundestagswahl.
Vom ersten Ziel sind sie meilenweit und vom zweiten ein ganzes Stück entfernt…
Ich gebe zu, dass der Weg weiter ist, als ich gedacht habe. Die Marke SPD hat in der Vergangenheit schwer gelitten, es braucht Zeit, verloren gegangenes Vertrauen wieder aufzubauen. Die guten Leistungen unserer Ministerinnen und Minister in der Regierung werden von den Menschen anerkannt. Aber sie geben für diese guten Leistungen noch zu wenig Vertrauensvorschuss auf die Zukunft. Daran müssen wir arbeiten.
Die Umfragewerte der Minister sind gut, die der Partei schlecht. Vielleicht liegt es doch an der Führung?
Auf die Idee könnte man kommen, wenn das Problem nicht schon seit 15 Jahren bestehen würde und nicht bereits zwölf verschiedene Parteivorsitzende beschäftigt hätte. Nein – wir haben hier eine Herausforderung, die wir zusammen angehen müssen. Und das tun wir jeden Tag.
Viele bezweifeln, dass Olaf Scholz den Rückhalt der SPD genießt. Dafür tragen Sie doch eine Mitverantwortung, weil ihre Kandidatur gegen Scholz angelegt war.
Wir haben nicht gegen jemanden kandidiert, sondern für Profilschärfung und Schulterschluss. Schon während des Wettbewerbs habe ich Olaf Scholz nie als Gegner empfunden. Und inzwischen ist er weit mehr als nur ein guter Kollege für mich.
Ein Freund?
Das Wort wird ein bisschen häufig verwendet, und wir haben ja keine private Beziehung zueinander. Aber ich tausche mich sehr gerne mit Olaf Scholz aus – auch über die Politik hinaus.
Wie sehr trifft Sie das schlechte Abschneiden der SPD bei der Kommunalwahl ausgerechnet in Ihrem Heimatland Nordrhein-Westfalen?
Unser Abschneiden bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen schmerzt mich. Es tut weh, dass die SPD noch nicht die Anerkennung dafür bekommt, dass sie so viel getan hat, etwa um Kommunen wieder handlungsfähig zu machen. Wir werden die CDU in dieser Frage weiter konsequent stellen.
Ist Dortmund für Sie nur eine Oberbürgermeisterwahl – oder kippt etwas, wenn am Ende in der Herzkammer der Sozialdemokratie die CDU den Oberbürgermeister stellen sollte?
Es ist nicht ungewöhnlich, dass es nach einem Generationenwechsel keinen Sieger im ersten Wahlgang gibt. Der SPD-Kandidat Thomas Westphal lag aber eindeutig vorn. Jetzt passiert etwas Bemerkenswertes: Die Grünen schlagen sich auf die Seite des CDU-Kandidaten. Offenbar proben sie ein exemplarisches Machtspiel, bei dem es nicht um die Interessen der Stadt Dortmund geht.
Deutet sich in Dortmund also das an, was auch auf Bundesebene passieren wird: Die Grünen lassen Sie für die CDU sitzen…
Ich sehe bei den Grünen aktuell eine Tendenz dazu, ihre ökologischen Themen mit einer konservativ-bürgerlichen Perspektive in schwarz-grünen Bündnissen verknüpfen zu wollen. Die Grünen müssen beantworten, ob sie ökologischen Wandel auf Kosten der Menschen mit niedrigen Einkommen wollen – oder ob sie diese Menschen aktiv mitnehmen wollen.
Das ginge nur mit Ihnen?
Viele Wähler wollen wissen, ob die Grünen für ein konservatives oder ein progressives Projekt stehen. Das ist eine so starke Richtungsfrage, dass man darauf gern eine Antwort hätte - bei allem Respekt davor, dass jede Partei selbst entscheiden darf, mit wem sie regiert. Das tun wir ja auch.
Die SPD braucht für die Bundestagwahl Machtoptionen: Rot-Rot-Grün könnte am Willen der Grünen und am Kurs der Linken scheitern. Eine Ampel mit der FDP von Christian Lindner ist kaum vorstellbar. Schließen Sie eine erneute große Koalition mit der SPD als Juniorpartner aus?
In rauer See, in der es darum geht, den Kahn über Wasser zu halten, hat sich die Koalition mit CDU und CSU bewährt. Für die Zeit danach muss der Kurs in die Zukunft klar sein. Da sind die Gemeinsamkeiten weitgehend erschöpft. Mit CDU und CSU würden wir auf Dauer im Kreis herum fahren. Das wäre nicht nur schlecht für meine Partei, sondern auch für das Land.
Sie kandidieren nicht für den Bundestag. Ist das auch ein Fingerzeig an die Partei, dass sie sich in absehbarer Zeit einen neuen Vorsitzenden suchen muss?
Ich mache die Arbeit als Vorsitzender gern und wollte von Anfang an SPD-Politik nicht aus Koalitionszwängen heraus entwickeln. In der wichtigen Phase bis zur Wahl gehöre ich dem Bundestag ohnehin nicht an. Im kommenden Jahr dann für den Bundestag zu kandidieren, hätte geheißen, dass ich mich bis zum Alter von 73 Jahren auf ein Leben als Politiker festgelegt hätte. Das wollte ich nicht - wohlgemerkt: nur die Festlegung. Ich respektiere, dass andere das für sich anders entscheiden - etwa Wolfgang Schäuble, der mit 79 noch einmal antreten will.
Haben Sie schon entschieden, ob Sie für eine zweite Amtszeit antreten werden?
Ich will, dass die SPD wieder zu alter Stärke findet. Meine Arbeit muss Sinn machen und weiter auf die Zustimmung der Mitglieder bauen können. Davon und nicht von irgendwelchen Ambitionen muss eine Kandidatur geleitet sein. Meinem Gewicht in der Führungsriege der SPD kommt zugute, dass ich keine Überzeugung aufgeben muss, weil sie einen Karriereknick bewirken könnte.
Falls die SPD nach der Wahl in die Opposition geht: Ist dann ein Umbruch an der Spitze von Partei- und Fraktion fällig?
Wir haben viele begabte junge Menschen in der SPD. Saskia Esken und ich sind nicht als Übergangs- oder Kurzzeit-Vorsitzende angetreten. Aber ich bin sicher keiner, der an seinem Stuhl klebt. Eine gläserne Decke, durch die ambitionierte junge Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht durchstoßen können, gibt es mit mir als Vorsitzendem nicht. Im Gegenteil: Wir haben viele junge Hoffnungsträgerinnen und Hoffnungsträger, die noch vernehmbarer sein könnten.
Sehen Sie in Kevin Kühnert einen künftigen Vorsitzenden?
Wir haben den Kanzlerkandidaten nicht vor der Zeit bekannt gegeben und es gibt keinen Anlass, bei den Kandidatinnen und Kandidaten für einen noch fernen Parteivorsitz anders zu verfahren. Davon abgesehen: Kevin Kühnert verbindet eine außergewöhnliche Eloquenz mit echtem inhaltlichem Tiefgang.Sie sind von ganzem Herzen Rheinländer. Zerreißt es Ihnen das Herz, dass Karneval diesmal weitestgehend abgesagt wird.Ja. Die weitestgehende Absage von Karneval tut weh, wenn man den Karneval liebt. Das tue ich. Ich habe aber größte Anerkennung für diejenigen, die diese Entscheidung getroffen haben. Sie ist vollkommen richtig. Trotz des Milliardenschadens, den eine Absage des Karnevals am Ende auch bedeutet, gilt ohne Einschränkung: Wichtiger als der Frohsinn ist der Gemeinsinn.
Wenn der Karneval wieder erlaubt ist: Als welcher SPD-Vorsitzender werden sie sich dann verkleiden?
Die Statur muss ja passen, und Karneval immer auch ein bisschen Persiflage sein. Ich würde mich deshalb gern mal als Gerhard Schröder verkleiden (lacht).
Was würde Willy Brandt zu Ihrem ersten Jahr als Parteichef sagen?
Er würde sagen: Es kommt mir vieles bekannt vor.