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Interview mit Selig-SängerJan Plewka: „Mich hat’s damals ganz schön zertorft“

Lesezeit 10 Minuten
Hamburg: Jan Plewka, Sänger und Songwriter (Archivbild aus 2021)

Jan Plewka (Archivbild)

Im Interview spricht der 52-Jährige über Auftritte bei „Sing meinen Song“, Gefahren des Smartphonezeitalters und die Dämonen der Vergangenheit.

Die Band Selig gilt für manche als „die deutschen Nirvana“. Jetzt ist sie mit ihrem Sänger Jan Plewka auf Jubiläumstour.

Jan Plewka, Ihr aktuelles Album „Between the 80s“ enthält ausschließlich akustische Coverversionen ihrer Lieblingssongs aus den Achtzigern. Wie kam es dazu?

Jan Plewka: Na ja, es ist gerade eine melancholische Zeit, und wir hatten nichts zu tun. Bei Marco Schmedtje (Plewkas Gitarrist und musikalischer Partner, d.?Red.) am Küchentisch haben wir die Achtzigerjahre aus dem Plastikhimmel in eine organische Gegenwart verwandelt. Wir haben eine Liste mit unseren Lieblingsliedern des Jahrzehnts erstellt. Die ist immens lang. Bei zwölf haben wir aufgehört, aufzunehmen.

Bevor eben das Mikrofon anging, sprachen Sie davon, dass diese Lieder Ihnen „auf die Seele tätowiert“ seien. Das waren vermutlich die Songs, die Sie als Teenager gehört haben.

Ja. Man ist in der Zeit wie ein Rehkitz, das in die Welt hinausläuft und giftige Beeren probiert. Man torkelt herum und fühlt den wirklich schmerzhaften ersten Liebeskummer. Die Musik ist der Soundtrack all dieser Erfahrungen. Sich da hineinzustürzen, sich Kraft zu holen für das weitere Leben – dafür ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt.

Mein Rat für mein jugendliches Ich wäre: „Sauf nicht so viel!“
Jan Plewka

Der richtige Zeitpunkt für Toto und Alphaville?

Zu „Africa“ sind wir damals amtlich auf der Tanzfläche abgegangen. Nie hätten wir gedacht, das später mal selbst zu spielen. Damals konnten wir noch nicht einmal Englisch. Die Refrains waren episch, aber auch die Texte. „Forever Young“ behandelt ja die Angst vor dem Atomkrieg. Und „Dancing with Tears in My Eyes“! Ulrike hatte mich verlassen, und ich dachte: Sie spielen mein Lied. Jede Zeile ist für mich geschrieben, und ich tanze mit Tränen in den Augen. Dabei geht’s in dem Song um die totale nukleare Katastrophe. Auch jetzt, im Jahr 2023, ist der Tenor: Wir leben in einer Vorkriegszeit. Die Lieder kriegen so noch einmal eine neue Tiefe.

Und das kommt an bei Ihren Duokonzerten?

Die Leute freuen sich so sehr! Sie lachen und weinen. Wir erzählen auch Geschichten aus der Zeit, in der wir jung und irre waren. Ich komme aus dem Speckgürtel von Hamburg, aus Ahrensburg. Ich war der Typ mit der Popper-Locke und dem Marco-Polo-Shirt. Depeche Mode war meins. Als Mod-Popper habe ich damals dauernd von den Rockern auf die Fresse bekommen.

Ich nehme an, Sie waren auch auf der Reeperbahn unterwegs.

Natürlich, zum ersten Mal mit 14, als ich mit einem Kumpel die Schule schwänzte. Auf St. Pauli kamen uns zwei Typen entgegen, die in unserem Alter gewesen sein müssen. Ich habe sie mit „Na Jungs, auch am Schwänzen?“ begrüßt – aber das waren echte Kiezjungs. Die haben uns windelweich gehauen. Danach zog uns erst einmal nichts mehr nach St. Pauli. Später waren wir natürlich oft in den großen Clubs. Ich sagte mir: „Da will ich mal spielen!“ Meine Eltern wollten, dass ich Kunst oder Grafikdesign studiere, aber ich wusste, dass ich das nicht wollte. Ich war immer in Bands.

Wann haben Sie Ihr erstes Konzert gegeben?

Mit neun Jahren. Ich habe die Liebesgedichte gesungen, die meine Angebetete verschmäht hatte. Da ist die Passion in mich hineingestiegen. Auf einem Fest in der Aula haben wir uns aus Persil-Trommeln ein Schlagzeug und aus Pappmaché Gitarren gebaut. Ich stand mit Jeanshemd auf der Bühne und trug die Gedichte vor. Und alle sind ausgerastet! Da machte es bei mir knack, das war wie ein heiliger Funke. Genau das wollte ich machen.

Stimmt es, dass Sie Ihre heutige Frau nach einem Ihrer Konzerte kennengelernt haben?

Das war in Hamburg-Pöseldorf an der Alster. Da muss ich 18 gewesen sein. Heute kann man sich das nicht mehr vorstellen, aber damals war Pöseldorf die Gegend, in der Udo Lindenberg und Otto Waalkes abhingen.

Heute ist es ein Nobelviertel.

Genau. Damals hingen wir da rum. Wir waren backstage in einem Laden namens Hähnchenkeller, und plötzlich kommt diese wunderschöne Frau rein und fragt: „Na, warst du auch auf dem Konzert?“ Ich war natürlich empört: „Bitte? Ich war der Sänger!“ Das war meine erste Begegnung mit Anna.

Sie wohnen heute wieder in Großhansdorf bei Ahrensburg. Aber als Teenager wurde es Ihnen da sicher zu eng.

Das war auch eines der ersten Lieder, das ich mit zwölf geschrieben habe: „Raus, nur raus, nur weit weg von zu Haus’.“ Als Selig sich wiedervereint haben, haben sie uns viel Geld gegeben. Wir haben online ein echtes Traumhaus gefunden, und sogar bezahlbar! Anna meinte: „Es gibt nur ein Problem, Janni. Es ist in Ahrensburg.“ Und ich dachte nur: Da wollte ich doch nie wieder hin! Aber es ist unser Zuhause geworden.

Mit Ihrer Rockband Selig sind Sie bekannt geworden, jetzt sind Sie auf Jubiläumstour. 30 Jahre Selig – ein Grund zum Feiern, oder?

Eigentlich wollten wir es 20 Jahre Selig nennen – wir waren ja zwischendurch zehn Jahre auseinander. Aber wir freuen uns auf die Tour – unterwegs zu sein, das ist ein einziges Fest. Da muss man nicht extra anstoßen, das macht man sowieso die ganze Zeit.

Sie sind jetzt 52. Man hört, dass Sie mittlerweile abstinent leben.

Ich habe mein Fässchen ausgetrunken. Ich habe aber auch viel dafür getan, dass es alle wurde. Mein Rat für mein jugendliches Ich wäre: „Sauf nicht so viel!“ Dadurch habe ich viel verpasst. Leider.

Die Erinnerungen an Konzerte sind verschwommen?

Das müssen tolle Abende gewesen sein. Ich treffe immer noch Leute, die mir auf die Schulter hauen und sagen: „Mensch, Plewka, mit dir hatte ich die geilste Nacht meines Lebens.“ Und dann kommen Geschichten aus irgendwelchen Bars, und ich denke nur: „Wer bist du?“ Muss toll gewesen sein. Ich wurde auch schon gefragt, ob ich je einen Filmriss gehabt hätte. Da kann ich nur sagen: „Weiß ich doch nicht!“ (lacht)

Selig galten als die deutschen Nirvana. Passt die Bezeichnung?

So wurden wir damals gehandelt. Diesen Grunge-Lifestyle haben wir auch gelebt. Alles, was da aus Seattle kam, war tolle Musik, die düsteren Texte und das Organische daran. Aber der Strudel war heftig. Diesen Zeitgeist haben wir geritten, das tut nicht gut. Mich hat’s damals ganz schön zertorft.

Das Wort „Achtsamkeit“ kannte man wohl noch nicht.

Vier Jahre haben wir durchgeballert. Da passierte alles, was im Handbuch des Rock ‚n‘ Roll steht. Das war eine düstere spirituelle Erfahrung. Wir waren zynisch und kalt geworden, lieblos und hart. Das ist eigentlich weit weg von mir – wir sind doch als Künstler dafür da, Mauern weich zu machen und Nähe zu schaffen. Anna hat das gemerkt, sie meinte: „Bevor du stirbst, fliehen wir nach Schweden.“ Wir sind also abgehauen in eine Holzhütte. Da kam, nach einem Jahr mit schweren Depressionen, der Mensch in mir wieder durch. Ich habe viel gelernt. Durchs Leiden zum Licht!

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Schönes Wochenende!

Seitdem gab es Soloalben, Selig-Alben und etliche Fernsehauftritte. 2020 haben Sie sogar bei „Sing meinen Song“ mitgemacht. Wie war das?

Ich war zunächst skeptisch. Max Giesinger und Nico Santos sind Künstler, mit denen ich vorher keinen Kontakt hatte. Aber es war toll, meine Arroganzbarrieren abzubauen. Ich saß da zusammen mit Leuten, die sich genau wie ich mit 13 Jahren entschieden haben, Sänger oder Sängerin zu werden. Auf diese Art haben wir uns verbunden. Wir waren alle auf einmal wieder Teenager und haben die Lieder der anderen gesungen. Bei dieser Show wird nicht bewertet, da geht’s auf eine Art auch um Liebe. Das unterstützt das, wohin wir alle mit unserer Musik wollen.

Wohin wollen Sie denn mit Ihrer Musik?

Mir sind Momentanität und Freiheit wichtig. Wirklich da zu sein. An meinem Geburtstag habe ich mir gewünscht, ein ganzes Jahr lang im Hier und Jetzt zu sein. Das geht natürlich nicht, du denkst ja immer an Zukunft und Vergangenheit. Außer, wenn du auf der Bühne stehst und singst. Da bin ich im Jetzt, da gibt es keine Zeit, das ist für mich Realität. Diese Realität auch im Alltag hinzubekommen – das wäre toll. Ich habe dann angefangen, zu malen. Das ist eine sichtbare Meditation, der gleiche Zustand wie beim Singen. Und jetzt noch die Zeiten zwischen Malen und Bühne im Flow hinzukriegen – das ist die Aufgabe!

Neue Gelassenheit finden?

Wegkommen vom Dataismus! Früher gab’s keine Handys, wir mussten uns was ausdenken. Wir haben also etwas gemacht, was wir „Soul-Driving“ nannten. Wir gingen morgens raus und haben uns den ganzen Tag treiben lassen. Solche Tage gönnt man sich gar nicht mehr. Durch Instagram und Co. sind wir so träge geworden.

Was haben Sie bei diesen „Seelenfahrten“ getrieben?

Vermutlich waren wir ziemlich verkatert. Raus aus der Wohnung, durchs schöne Hamburg stromern. Bis abends waren wir unterwegs und haben viele Leute kennengelernt. Manchmal haben wir uns aber auch einfach im Bettengeschäft ins Schaufenster gelegt und erst einmal eine Runde gepennt.

Sie haben mal gesagt: „Als Künstler atmet man die Zeit ein und versucht, daraus etwas zu machen.“ Was bedeutet das?

Wenn du dich ausdrücken musst, willst du für dich selbst und für die Umgebung Schönes produzieren. Die Dämonen wegatmen, malen, spielen! Am besten auf hoffnungsvolle Art, um nicht wieder in diesen Grunge-Strudel zu geraten. Deshalb bin ich auch so ein großer Rio-Reiser-Fan. Der kennt seine Dämonen, aber es gibt immer einen Silberstreifen am Horizont. „Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.“

Den Rio haben Sie schon Hunderte Male bei Liederabenden gegeben. Warum ist der Ihnen so wichtig?

Das Traurige ist, dass seine Lieder immer aktueller werden. Rio singt „Ich hab geträumt, der Krieg wäre vorbei“. Da ist auch Hoffnung: „Der Traum ist aus, aber ich werd alles geben, dass er Wirklichkeit wird.“ Ich bin auch Fan von Danger Dan und Dota Kehr. Das ist eine Generation, die wie Rio ihre Utopien raushaut. Auch die atmen, nehmen sich Zeit und gestalten die Zukunft. Man schaut sich auf ihren Konzerten um und merkt, dass man nicht allein ist. Es ist Zeit, hellsichtig zu sein.


Zur Person: Jan Plewka

Selig, Rio Reiser und Simon & Garfunkel

Geboren wurde Jan Plewka 1970 in Ahrensburg, im Hamburger Speckgürtel. Seine erste Schülerband gründete er als Neunjähriger. Als Kind und Jugendlicher sang er in verschiedenen Bands, zudem war Plewka zu dieser Zeit Synchronsprecher und Sprecher bei Hörspielen. Er spielte auch in der „Sesamstraße“.

Anfang der 1990er-Jahre gründete er die Band Selig. Plewka, Lenard Schmidthals, Christian Neander, Stephan Eggert und Malte Neumann nahmen drei Alben auf, gingen auf erfolgreiche Touren und spielten bei zahlreichen Festivals. Ende 1997 verließ Plewka die Band, die zwei Jahre später offiziell ihre Auflösung bekannt gab. 2008 kündigte Selig dann die Reunion an und veröffentlichte kurz darauf wieder ein Album.

In der Zwischenzeit arbeitete der Sänger an verschiedenen Projekten, etwa einem Simon-&-Garfunkel-Abend. Bis heute tritt er mit seinem musikalischen Partner Marco Schmedtje regelmäßig mit dem Programm „Jan Plewka singt Rio Reiser“ auf.

Selig – Keyboarder Neumann ist 2014 ausgestiegen – ist gerade deutschlandweit auf Tour. Die Band spielt unter anderem in Hannover (29. Oktober), Rostock (1. November), Köln (4. November), Leipzig (11. November) und Hamburg (15. Dezember). Zudem gibt es mehrere Auftritte von Plewka und Schmedtje.


Auf der Bühne verkörpern Sie Rio Reiser mit jeder Pore, tigern über die Bühne, schwitzen. Ist es korrekt, dass Sie eine Rampensau sind?

Das ist tatsächlich mein Charakter. Das hat schon angefangen, ehe „Forever Young“ rauskam. Da war ich schon ein Performer. Ich liebe es, während Konzerten die Zuhörer zu beobachten und zu sehen, wie sich ihre Gesichter verändern. Wenn wir heute mit Selig wieder unsere alten Songs spielen, meine ich, in den Gesichtern die Geschichten sehen zu können, die die Leute mit diesen Stücken verbinden. Das hat etwas Magisches. Das ist wie Knutschen, das macht süchtig.

Werden Sie mit Selig auch noch den 50. Bandgeburtstag feiern?

Na klar. Selig wird es auch noch geben, wenn es uns nicht mehr gibt.