Es ist eine einfache Rechnung. Wenn alle, bei denen gesundheitlich nichts dagegenspricht, sich gegen Corona impfen lassen, können wir Herdenimmunität erreichen. Eine überschaubare Anzahl an Impfunwilligen kann die Gesellschaft sich leisten. Aber wenn zu viele ausscheren, werden wir Probleme haben, die Pandemie in den Griff zu bekommen.
Hinter dieser Erkenntnis steckt erheblicher gesellschaftlicher Sprengstoff. Es ist richtig, jetzt alles zu tun, um es den grundsätzlich Impfwilligen so einfach wie möglich zu machen, sich impfen zu lassen – und auch um Skeptiker zu überzeugen. Werben wir für die Impfung, von staatlicher Seite, aber auch als Bürgerinnen und Bürger, die über das Thema das Gespräch mit Nachbarn, Kollegen, Freunden und Bekannten suchen. Schicken wir Impfmobile in die sozialen Brennpunkte und dorthin, wo Jugendliche feiern!
Vierte Welle droht
Am Ende bleibt aber unweigerlich die Frage: Was ist, wenn das alles nicht reicht? Dabei geht es nicht nur um die Frage einer hoffentlich früher oder später erreichten Herdenimmunität, sondern auch ganz konkret um die Aussicht auf den Herbst und den Winter. Oberste Priorität sei, dass Schulen und Kitas offenbleiben könnten, haben bereits im vergangenen Jahr alle Politiker behauptet. Nur: Wenn die Infektionszahlen erneut in die Höhe schnellen, wird das erneut ein leeres Versprechen bleiben.
Es geht um die Interessen der gesamten Gesellschaft daran, ihre Freiheiten durch die Eindämmung der Pandemie wieder komplett zurückzuerlangen. Es geht aber eben auch um die Frage, ob die Politik es zulässt, dass am Ende wieder die Kinder und Jugendlichen den höchsten Preis zahlen. Gerade die Mädchen und Jungen aus ärmeren Familien, die zu Hause keinen ruhigen Platz zum Lernen haben, hatten in der Zeit des Distanzunterrichts die größten Nachteile. Alle Kinder und Jugendlichen haben darunter gelitten, Mitschüler und Freunde so wenig sehen zu können.
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Die Auseinandersetzung mit den Impfunwilligen muss jetzt geführt werden – auch wenn das im Wahlkampf nicht jedem opportun erscheint. Wenn das Virus und die Deltavariante weiter grassieren, steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass es zu weiteren Mutationen kommt – vielleicht auch zu solchen, gegen die der bisherige Impfstoff nur unzureichend wirkt. Die Impfungen gegen das Coronavirus sind also ein Wettlauf gegen die Zeit.
Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) hat also Recht damit, wenn er eine Debatte darüber beginnt, wie mit hohen Infektionszahlen im Herbst umzugehen wäre. Warum sollte die Politik Impfskeptikern nicht offen sagen, dass es für Ungeimpfte dann im Zweifelsfall zu Einschränkungen kommen könnte? Womöglich auch zu solchen, von denen sie sich – je nach dann aktueller Risikoabwägung – nicht freitesten können.
Etwas Druck ist zulässig
Mindestens eines muss deutlich werden: Ab einem bestimmten Zeitpunkt werden diejenigen, die Impfangebote ausschlagen, für Tests auch selbst zahlen müssen. Die Politik muss pfleglich mit den Freiheiten der Bürger umgehen. Sie muss aber auch nicht denen einen roten Teppich ausrollen, die es der gesamten Gesellschaft erschweren, die Pandemie hinter sich zu lassen.
Versucht Braun an dieser Stelle Druck auf Impfunwillige aufzubauen? Wahrscheinlich ist das so. Doch ein überschaubares Maß an Druck ist in einer so bedrohlichen Lage für die Gesellschaft zulässig. Der Staat hat eine Verantwortung für alle Bürger – nicht nur für die Impfunwilligen. Die einen mögen auf Werben und Anreize reagieren. Andere überdenken ihre Haltung vielleicht, wenn ihnen deutlich wird, dass auch ihnen persönlich Nachteile entstehen. Freundliches Werben und das maßvolle Aufbauen von Druck schließen einander nicht aus. Viele Wege führen zur Herdenimmunität.