Berlin – Nach einem lebensbedrohlichen Unfall in Berlin wächst die Kritik an der Klimaschutzbewegung "Letzte Generation". Doch hinter dieser Kritik steckt die Angst vor gesellschaftlichen Veränderungen, zu denen wir noch nicht bereit ist.
Der Fortschritt ist auch nicht mehr das, was er mal war. Denn wohin soll er aus Sicht eines jungen Menschen führen, den der Ausverkauf unseres Planeten umtreibt? Zu noch mehr tonnenschweren Geländewagen in den Innenstädten? Zu einer Landwirtschaft, die als Kollateralschäden noch mehr ausgestorbene Arten zu verbuchen hat? Und zu noch mehr Flugzeugen am Himmel, die in ferne Urlaubsziele schweben?
In der hochkochenden Debatte um die Klimaaktivisten hilft es, für einen Augenblick in die Haut eines Teenagers zu schlüpfen: Ist es so schwer nachzuvollziehen, dass ihn oder sie angesichts einer bestenfalls halbherzig handelnden Politik die Ungeduld, ja vielleicht sogar die Wut packt? Wer jung ist, der muss es noch ein ganzes Weilchen auf dieser Erde aushalten können. Der jetzige Protest ist geboren aus Verzweiflung, nicht aus Hoffnung.
Vor der Corona-Pandemie hat die „Fridays for Future“-Bewegung rund um den Globus enormen Zulauf gehabt. Womöglich wäre ohne das Virus und ohne den russischen Überfall auf die Ukraine die Weltgemeinschaft einen Schritt weiter bei der Rettung des Planeten. Dann verschoben sich die Prioritäten der Politik. Derweil steuert die Erde nach Meinung der Wissenschaft weiter auf eine Überhitzung in den kommenden Jahrzehnten zu, die die Älteren mit all ihren Folgen kaum mehr erleben dürften.
Katz- und Mausspiel zwischen Behörden und Aktivisten
Ganz leicht dürfte so ein Perspektivenwechsel manchen nicht fallen, die in diesen Tagen im Stau stehen. Auf dem Asphalt kleben sich Protestlerinnen und Protestler fest und lassen sich in stundenlanger Kratzarbeit von der Polizei wieder befreien. Besonders in Berlin hat sich ein selbstbezügliches Katz- und Mausspiel zwischen Behörden und Aktivisten entwickelt, das Pendler auf die Palme bringt.
Jetzt haben sich die Aggressionen aber noch einmal verschärft: Es wird ermittelt, ob die Aktivisten einen Rettungseinsatz für eine verunfallte Radfahrerin verzögert haben. Mit Sicherheit lag das nicht in der Absicht der Protestierenden. Mögliche strafrechtliche Konsequenzen müssen sie tragen.
Scheinheilige Wut auf Unruhestifter
Und doch haftet der Wut auf die Unruhestifter etwas Scheinheiliges an. Vielleicht steckt dahinter nicht allein die berechtigte Sorge um das Leben einer Radfahrerin. Der Unmut dürfte auch deshalb so groß sein, weil Gruppen wie „Letzte Generation“ deutlich machen, dass sich unser gewohnter Lebensstil kaum mit dem Kampf gegen den Klimawandel vereinbaren lässt.
Hinter der immer schärferen Kritik steckt die Angst vor gesellschaftlichen Veränderungen, zu denen wir noch nicht bereit ist. Sonst würden wir ja gar nicht jeden Morgen und jeden Abend wieder im Stau stehen - auch ohne nervige Protestaktionen.
Es ist noch nicht lange her, da versetzte das Bundesverfassungsgericht der deutschen Politik eine Klatsche: Das Klimaschutzgesetz von 2019 verschiebe die Lasten auf die jüngeren Generationen, verkündeten die Richter. Die Nachfolgenden wären diejenigen, die auf Strom, Heizung und Mobilität verzichten müssten. Die jungen Menschen wurden bei dem Gesetz glatt vergessen. In diesem gesellschaftlichen Umfeld setzen sich die Aktivisten auf die Straße oder bewerfen Gemälde mit Kartoffelbrei.
Aktivismus will Mitstreitende gewinnen
Ob solche Aktionen dem Ziel der Rettung der Welt dienlich sind, müssen sich die Protestierenden seit dem Berliner Vorfall dennoch mehr denn je fragen. Aktivismus zielt darauf ab, Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu gewinnen. So gesehen haben die Asphalt-Provokateure bei dieser Form der moralischen Selbstermächtigung versagt. Sie müssen aufpassen, dass ihre Bewegung nicht ins Destruktive kippt.
Doch wer nun ein härteres Vorgehen gegen sie fordert, sollte sich auch eingestehen: Ihre Sache ist letztlich unsere Sache.