Es ist die Botschaft, die die Dramen um „Titan“ und „Titanic“ nun gleichermaßen hinterlassen: Unterschätze niemals die Macht der Natur.
Kommentar zum vermissten U-BootDie Botschaft: Vertraue keiner Technik blind
Es liegt tief in der Natur des Menschen, die Grenzen des Machbaren auszuloten. Ohne Mut keine Pioniertaten, ohne Risiko kein Fortschritt. Doch der beherzte Wille zum Wagnis trägt eben immer auch die Möglichkeit des Scheiterns in sich. „Titan“ heißt das Mini-U-Boot, das fünf Touristen zum Wrack der „Titanic“ hinabtragen sollte, dem zweitberühmtesten Schiff nach Noahs Arche, 3800 Meter tief im eiskalten Atlantik.
Dort unten verrottet das stählerne Denkmal des Unfehlbarkeitsdenkens, das befeuert von 60.000 PS und dem grenzenlosen Optimismus seiner Erbauer als technischer Triumph der Menschheit über die Gewalt der Natur galt. Bis zum 14. April 1912.
Es ist die ungeheure Symbolkraft des aktuellen U-Boot-Dramas, die die globale Öffentlichkeit in ihren Bann schlägt: Ausgerechnet jenes Schiff, das vor 111 Jahren in einer Zeit massiver Umbrüche zum Inbegriff für die Hybris der Menschheit wurde, gebiert ein neues Drama, in dem es um gefährliche Grenzgänge geht, um ignorierte Skepsis und die erstaunlich hartnäckige Neigung unserer Spezies, ihr Leben in die Hände anfälliger Technik zu legen (siehe auch: selbst fahrende Autos oder Flugtaxidrohnen). Ein munterer Touristentrip hinunter zur „Titanic“? Wieder wird ein vermeintlicher Triumph über die Natur zur Irrfahrt - und die kleine „Titan“ (6,50 Meter lang) damit zur Schicksalsschwester der großen „Titanic“ (369 Meter lang).
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Natürlich trägt es Züge von Zynismus, dass das Schicksal von fünf touristischen Wracktauchern, die in einer winzigen Blechdose ausharren, mehr mediale Aufmerksamkeit erregt als das grausame Ersaufen hunderter Männer, Frauen und Kinder vor der griechischen Küste im Mittelmeer, die nicht der Erlebniskick aufs Wasser trieb, sondern die nackte Not.
Warum aber elektrisiert das Schicksal der „Titan“ so viele Menschen? Weil es - wie schon das Höhlendrama um die jungen Fußballer in Thailand oder die Rettung von „Apollo 13″ - tief an der ewigen Frage rührt, wer wirklich die Kontrolle hat auf diesem Planeten: der Mensch oder die Natur. Auch das aktuelle U-Boot-Drama taugt als Metapher für den Machbarkeitswahn, als maritimes Menetekel.
Titanic. Titan. Schon diese Namen sind eine Anmaßung: Die Titanen - das waren Riesen in Menschengestalt, das älteste Gottesgeschlecht der griechischen Mythologie. Es ist die Fallhöhe zwischen der Zukunftsbesoffenheit ihrer Zeit und dem monströsen Drama ihres Untergangs, das an der „Titanic“ bis heute fasziniert. Ihre Geschichte entspricht exakt dem Muster der griechischen Tragödie. Hybris, Nemesis, Katharsis. Übermut, Katastrophe - und innere Reinigung.
Der Untergang der „Titanic“ galt damals als eine Art Schwellenzoll, als Preis für den Beginn des Technikzeitalters. Nach dem Unglück wagte es niemand von Verstand mehr, menschliches Tun für absolut unfehlbar zu halten. Doch von Demut ist wenig zu spüren in unserer Zeit. Stattdessen trägt die Selbstüberschätzung neue Blüten.
Eine technologietrunkene Industrie verspricht in wortmächtiger Hybris die Überwindung aller irdischen Hemmnisse durch Software, Konsum und organisierte Maßlosigkeit. Paranoide Machtpolitiker träumen von digitaler Vollkontrolle. Künstliche Intelligenz, Genforschung, Menschmaschinen - sie sind die „Titanic“-Projekte der Moderne. Ausgang ungewiss. Und wenn die Megalomanie die Erde final ausgebeutet hat, expandiert die Spezies einfach, wie von Elon Musk und anderen propagiert, auf den Mars. Mit Raumschiffen, die dann gewiss als „hundertprozentig sicher“ angepriesen werden.
Es ist die Botschaft, die die Dramen um „Titan“ und „Titanic“ nun gleichermaßen hinterlassen: Vertraue keiner Technik blind. Und unterschätze niemals die Macht der Natur. Denn sie wird sich nie so verhalten, wie du es dir zuvor ausgerechnet hast. (RND)