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Laut, streitbar, oft überhörtÄrzte holen sich in der Corona-Krise Autorität zurück

Lesezeit 8 Minuten
Klaus Reinhardt

Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer

Berlin – Am Abend vor den Ministerpräsidentenkonferenzen zur Corona-Politik gab es oft ein anderes Treffen, von dem nur wenig an die Öffentlichkeit drang. Kanzlerin Angela Merkel und ihr Kanzleramtsminister Helge Braun holten sich, per Videoschalte, Rat bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.

In der Regel bei jenen, die zum Team Vorsicht gehörten, Christian Drosten etwa oder Melanie Brinkmann. Auch Physikerinnen und Physiker, Mathematikerinnen und Mathematiker und Modelliererinnen und Modellierer waren dabei. Fachleute, die mögliche Entwicklungen vorausberechnen können.

Die Ärzteschaft hat die Zusammensetzung des Kreises von Anfang an als zu exklusiv kritisiert. „Wir hätten uns eine regelmäßige institutionelle Einbeziehung der Bundesärztekammer in die Entscheidungsfindung der Politik vorstellen können, etwa durch die Etablierung eines ständigen, interdisziplinären Pandemierates“, sagt Ärztepräsident Klaus Reinhardt.

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Mehr Vielfalt gewünscht

Nach Vorstellung der Medizinerinnen und Mediziner hätte man in dem Beratergremium „regelmäßig alle für die Gesellschaft relevanten Fragen zum Umgang mit der Pandemie diskutieren müssen – mit Ärzten, Lehrern, Ethikern, Psychologen und Juristen“.

Die Kassenärztinnen und -ärzte argumentieren ähnlich. „Uns wurde in der Pandemie zugehört. Ich hätte mir dennoch gewünscht, dass sich das Kanzleramt nicht so einseitig nur von Mathematikern, Physikern und Modellierern beraten lässt“, sagt Andreas Gassen, Chef der mächtigen Kassenärztlichen Bundesvereinigung, und fügt hinzu:

„Es hätte von Anfang an einen Expertenrat geben sollen, in dem neben ärztlichen Virologen zum Beispiel auch Kinderärzte, Hausärzte und Psychologen eine Stimme haben. Etwas mehr ärztlicher Sachverstand aus der echten Versorgung wäre gut gewesen.“ Am Ohr der Kanzlerin saßen die Zahlenmenschen. Die öffentliche Debatte konnten das ärztliches Fachpersonal dennoch befeuern.

Hausarzt sieht sich als Korrektiv

Gassen und seine Kolleginnen und Kollegen sind gefragte Gesprächspartnerinnen und -partner in den Hauptnachrichtensendungen und den großen Talkshows von Maybrit Illner bis Markus Lanz. Gassen, gewählt gekleideter Orthopäde aus Düsseldorf mit rheinischem Zungenschlag, war kaum bekannt, bis er im Fernsehen immer wieder mit eingängigen Sprüchen als Gegenpart zu Lauterbach, Drosten und Co. auftrat.

So hielt er im September bei Anne Will der stirnrunzelnden Virologin Melanie Brinkmann entgegen, dass er Altenheimbewohnende kenne, die sagten, sie hätten den Zweiten Weltkrieg überlebt und dass es ihnen egal sei, wenn ein Test 5 Prozent Ungenauigkeit habe.

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Auch Ärztepräsident Reinhardt, der eine Hausarztpraxis in Westfalen betreibt, sieht sich als Korrektiv: „Ich habe mich deshalb immer dann zu Wort gemeldet, wenn ich den Eindruck hatte, der Bogen wird überspannt – etwa bei der nächtlichen Ausgangssperre in der Bundesnotbremse, die verhängt wurde, als bereits eine Trendumkehr bei den Infektionszahlen absehbar war.“

Reinhardt ist nicht der Typ, der das Scheinwerferlicht im TV-Studio sucht. Er geht ihm aber auch nicht aus dem Weg. Für bundesweite Schlagzeilen sorgte der Allgemeinmediziner, als er im Oktober in der ZDF-Talkshow „Markus Lanz“ den Sinn von Alltagsmasken mit der Bemerkung anzweifelte, es gebe „auch keine tatsächliche wissenschaftliche Evidenz darüber, dass die tatsächlich hilfreich sind“.

Das war zu einem Zeitpunkt, als sich die Masken zum Schutz vor dem Coronavirus schon weltweit durchgesetzt hatten. Wenig später sprach er in der Sendung gar von einem „Vermummungsgebot“. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, während der Pandemie mehr Mediziner als Politiker, forderte daraufhin den Rücktritt, sollte Reinhardt die Aussagen nicht zurücknehmen.

„Erhebliche Irritationen“

Der 61-Jährige war tatsächlich zu weit gegangen. Kritik kam auch aus den eigenen Reihen. Reinhardts Vorstandskollegin Susanne Johna sprach von einer persönlichen Auffassung des Ärztepräsidenten, die im Widerspruch zur aktuellen Studienlage sei. Kurz darauf bestätigte Reinhardt den Nutzen der Masken und entschuldigte sich für die „erheblichen Irritationen“.

Zurückrudern musste auch Reinhardts Vorgänger im Amt des Ärztepräsidenten, Frank Ulrich Montgomery. Der rhetorisch äußerst versierte Mediziner schaltet sich als „Weltärztepräsident“ immer wieder mit prägnanten Äußerungen in die öffentliche Debatte ein. Tatsächlich ist er Vorstandsvorsitzender und nicht Präsident des Weltärztebundes (WMA), der sich eigentlich überwiegend mit ethischen Fragen des Arztberufs beschäftigt.

Auch er zweifelte am Sinn der Alltagsmasken und nannte das Tragen „Unsinn“. Später korrigierte er sich und sprach von einem Irrtum. Mit allgemeinpolitischen Einschätzungen bei umstrittenen Fragen hält auch er sich nicht eben zurück. Gerade sprach er davon, dass es richtig sei, wenn Geimpfte mehr Möglichkeiten und Freiheitsräume bekämen als Nichtgeimpfte.

Die Ärztefunktionäre kamen quasi über Nacht in eine Rolle, wie sie Wirtschaftsbosse gegenüber dem Aktienkurs haben. Ein falsches Wort und die Corona-Republik wackelt. Wie Politikerinnen und Politiker müssen auch die Medizinerinnen und Mediziner viel Gegenwind aushalten. Gassen, der gern ein offenes Wort spricht, wirkt wie geimpft gegen öffentliche Anfeindungen: „Kritik, die nicht sachliche Aspekte betrifft, belastet mich nicht. Ich bin auch nicht in sozialen Medien unterwegs. Wer sich dort austobt, muss damit leben, dass ich es nicht mitkriege.“

Kritik aus den eigenen Reihen

Die öffentliche Rolle der Ärzteschaft hat sich in diesen anderthalb Jahren erheblich gewandelt. Fielen die Mediziner und Medizinerinnen vor der Pandemie vor allem mit Geldforderungen an Politik und Sozialversicherungen sowie Terminknappheit in ihren Praxen auf, sind sie nun viel stärker praktisch und inhaltlich gefragt. „Die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte mit ihren Teams waren bei der Bewältigung der Pandemie ständig involviert. Die KVen haben bei der Maskenbeschaffung geholfen und die Impfzentren mit organisiert“, sagt Gassen.

Nicht jedem hat das gepasst. Gassen berichtet auch von Kritik aus den eigenen Reihen. „Kümmern Sie sich um die Honorare, nicht um die Pandemie“, hielt ihm ein Kollege entgegen. Manche Kassenärztliche Vereinigungen (KV) in den Ländern seien auch nicht immer froh über den Aufgabenzuwachs, „da sie, nicht völlig unberechtigt, Sorge hatten, in eine Rolle zu kommen, für Dinge verantwortlich gemacht zu werden, für die sie am Ende nicht zuständig waren“.

Manche haben aber auch die Sorge, ganz praktisch in Bedrängnis zu kommen, wenn die Verbandschefs den Mund zu voll nehmen. So ballten viele niedergelassene Medizinerinnen und Mediziner die Faust in der Tasche, als ihre Funktionäre aus Kassen- und Hausärzteschaft beispielsweise die Abschaffung der Impfzentren forderten. Sie wussten nicht, wie sie zwischen der täglichen Behandlungsroutine und der für eine Praxis aufwendigen Organisation der Impfung mit verschiedenen Vakzinen noch viel mehr Impflinge annehmen sollten.

Image verändert sich positiv

Gassen sagt dennoch: „Die Impfzentren machen vielerorts keinen Sinn mehr. Die Impfung in einem Zentrum kostet schätzungsweise 200 Euro. Die Niedergelassenen bekommen magere 20 Euro.“ Hochbetagte und Mehrfacherkrankte, die im Herbst wahrscheinlich eine Auffrischungsimpfung benötigen, seien beim Hausarzt ohnehin besser aufgehoben.

Er räumt aber auch ein, durch die vielen Impfstoffe sei es für die Praxen sehr aufwendig, alles zum richtigen Zeitpunkt zu bestellen und zu dokumentieren. „Wenn im Herbst idealerweise nur noch mit einem Impfstoff geimpft wird, wird das unkomplizierter.“

Das Image der Ärzteschaft hat sich im Laufe der Pandemie trotz mancher Ungereimtheiten in TV-Talks positiv verändert. Vor der Erfindung des Internets galten Medizinerinnen und Mediziner als Halbgötter in Weiß. Seit Patientinnen und Patienten mithilfe von Dr. Google ihre Diagnosen selbst stellen und ihre Ärztinnen und Ärzte dann damit konfrontieren, haben die Mediziner und Medizinerinnen einen deutlich schwereren Stand.

Drastische Warnungen von Intensivmedizinern

Aber: In der Pandemie konnten sie an Autorität wieder zulegen. Wobei es auch innerhalb der Ärzteschaft große Gegensätze gibt, wie mit der Gefahr durch das Coronavirus umzugehen ist. Vor allem Haus- und Kinderärzte und -ärztinnen mahnten früh, die Kollateralschäden für Seele, Bildung und Menschen mit anderen Erkrankungen zu beachten.

Die Intensivmediziner hingegen schlugen immer wieder mit drastischen Warnungen Alarm und konterkarierten damit unter anderem die Position von Ärztepräsident Reinhardt, den Menschen keine Angst zu machen und die Folgen der Lockdownpolitik zu berücksichtigen.

Nur waren es die Intensivmedizinerinnen und -mediziner, denen einige Wochen später die Stationen vollliefen, wenn die Politik wie etwa im Herbst 2020 nicht mutig genug Beschränkungen durchsetzte. Die Position der niedergelassenen Ärzte und Ärztinnen hingegen war schon früh, dass man Schutzmaßnahmen nicht nur an Inzidenzwerten festmachen darf und dass das Gesundheitssystem zu keiner Zeit überfordert gewesen sei.

Aufklärung gegen Angst

Ohne Namen zu nennen, beklagt Ärztepräsident Reinhardt, dass sich die Kommunikation mancher Beteiligten darin erschöpft habe, Panik zu verbreiten. Auch mit Blick auf eine mögliche vierte Welle mahnt er: „Man muss den Menschen die Wahrheit sagen. Aber zugleich lautet ein eherner ärztlicher Grundsatz: Mache niemals deinem Patienten Angst. Kinder als Virenschleudern zu bezeichnen, das war purer Populismus.“

Da die Ärztekammer alle der 537.000 Ärztinnen und Ärzte in Deutschland vertreten soll, gründete die Kammer ein Gremium, das sie bei der Bundesregierung bis heute vermisst, einen „Pandemierat“ mit verschiedenen Fachgruppen.

„Dieser Austausch hat sich sehr bewährt, weil wir auf diese Art und Weise auch ein gegenseitiges Verständnis geschaffen haben, so zum Beispiel zwischen den Intensivmedizinern und den Kinder- und Jugendärzten“, sagt Reinhardt heute.

Die Frage ist, ob sich die Rolle der Ärztinnen und Ärzte in der Gesellschaft auch dauerhaft verändert hat. „Nach der Pandemie werden wir sicherlich nicht mehr zu jedem Thema gefragt“, sagt Gassen. „Aber wir werden wahrnehmbar bleiben. Es wird die Erkenntnis bleiben, dass bei den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten viel Kompetenz liegt.“ Eine der wesentlichen Lehren sei sicher, dass man sich mehr um breite und vor allem sachliche gesundheitliche Aufklärung der Bevölkerung kümmern müsse.