Benjamin Netanjahu hat Israel so lange als Ministerpräsident gedient wie niemand vor ihm. Doch nach dem Terrorangriff der radikalislamischen Hamas steht der 73-Jährige mit dem Rücken an der Wand. Denn viele Israelis glauben, dass Fehler der Regierung den Angriff erst ermöglicht haben.
Israelischer Ministerpräsident im PorträtBenjamin Netanjahu: Die wohl letzte Schlacht seines politischen Lebens
Israels Ministerpräsident rief seine Landsleute am Montag zum Zusammenhalt auf. „Wir befinden uns in einem Einsatz für die Heimat, einem Krieg zur Sicherung unserer Existenz, einem Krieg, den wir gewinnen werden“, sagte Benjamin Netanjahu zwei Tage nach dem brutalen Terrorangriff der radikalislamischen Hamas, dem mindestens 1200 Israelis zum Opfer fielen. Die Spaltungen im Land erklärte er für beendet. „Wir sind alle vereint“, behauptete der 73-Jährige, der in Tel Aviv geboren wurde, aber in den USA aufwuchs.
Der Premier steht gerade doppelt unter Druck. Er hat sich Zeit seines politischen Lebens stets als einer inszeniert, der für Sicherheit sorgt und konnte sie an diesem 7. Oktober 2023 nicht gewährleisten. Plötzlich schien der Süden Israels offen wie ein Scheunentor, durch das die Hamas-Terroristen eindringen konnten. Über 100 israelische Geiseln befinden sich in ihren Händen. Die Gemeinden rund um den Gaza-Streifen waren schutzlos.
Überdies führt Netanjahu eine teilweise mit Extremisten besetzte Regierung an, die das Land entzweit hat – allen voran mit der umstrittenen Justizreform. Teile des Sicherheitsapparats hatten sich zuletzt der Opposition angeschlossen. Es ist diese Zerrissenheit im Inneren und die daraus resultierende mangelnde Aufmerksamkeit nach außen, die den Angriff der Hamas 50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg Experten zufolge erst ermöglicht hat. Benjamin „Bibi“ Netanjahu trage dafür die Hauptverantwortung, heißt es. Es herrschen Wut und Verzweiflung.
Alles zum Thema Nahostkonflikt
- 21-jähriger Omer Neutra Israel bestätigt Tod von weiterer Geisel – Leiche noch im Gazastreifen
- Nahost-Newsblog Israel wird im Kampf gegen Hisbollah nicht nachlassen
- Angst vor dem Untergang in der SPD Olaf Scholz und das Ampel-Aus – Ein Kanzler ohne Macht
- Kölner USA-Experte Thomas Jäger „Trumps Wille ist künftig der Maßstab für Politik“
- In Berliner Bar Antisemitische Attacke auf Fan von israelischem Fußballverein
- „Die Brücke nach Haifa“ Ein Plädoyer für Empathie und Verständigung in Leverkusen
- „frank&frei“ zu jüdischer Identität Natan Sznaider und Navid Kermani diskutieren Nahost-Konflikt
In Spezialeinheit der Armee gedient
Der Ministerpräsident selbst hat fünf Jahre lang in einer Spezialeinheit der Armee gedient, wurde mehrfach verletzt und war auch am Jom-Kippur-Krieg beteiligt. Sein älterer Bruder Jonathan starb 1976 bei der „Operation Entebbe“ in Uganda, bei der israelische Sicherheitskräfte die Entführung eines Passagierflugzeugs der Air France durch palästinensische und deutsche Terroristen beendeten.
Benjamin Netanjahu war zunächst als Unternehmensberater und Manager tätig. Anfang der 1990er-Jahre stieg er, nicht zuletzt motiviert durch den Tod des Bruders, in die Politik ein, wurde 1993 Parteichef des konservativen Likud und 1996 erstmals Ministerpräsident. Netanjahu löste Shimon Peres ab – weil Israels Sicherheit nach einer Serie palästinensischer Selbstmordattentate nicht mehr gewährleistet schien. „Netanjahu – einen sicheren Frieden schaffen“, so lautete die Kampagne, die in auffälligem Kontrast zur Situation damals wie heute steht.
Seither hat sich Netanjahu als Enfant terrible der israelischen Politik erwiesen. Ja, er bildete Ende letzten Jahres sein sechstes Kabinett; das ist Rekord. Peter Lintl, Israel-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, nennt Netanjahu „einen begnadeten Machtpolitiker“. „Er hat es verstanden, die öffentliche Meinung zu lesen.“ Früher sei Netanjahu rechtskonservativ gewesen, heute eher illiberal und populistisch, so Lintl.
Seine Gegner kritisierten die Kompromisslosigkeit des Ministerpräsidenten und verwiesen auf die Ermittlungen der Justiz wegen Korruption. Seine Anhänger schätzten bislang Netanjahus Robustheit. Sicherheit steht in Israel schließlich seit der Gründung des Staates 1948 über allem. Die letzten Monate haben alles verändert.
Proteste gegen Justizreform
Seit die Regierung mithilfe der Justizreform die Macht des Obersten Gerichtshofes beschneiden wollte, hagelte es Proteste. Das liberale Israel lief monatelang gegen die Reform Sturm. Dabei kommt sie bereits heute Netanjahu persönlich zugute. So verabschiedete das Parlament, die Knesset, im März ein erstes Gesetz, das den Regierungschef vor einer Amtsenthebung schützen soll. Es legte fest, dass ein Ministerpräsident nur aus gesundheitlichen oder mentalen Gründen als regierungsunfähig eingestuft werden kann. Gleichzeitig kann allein der Amtsinhaber oder seine Regierung die Entscheidung treffen. Ein Korruptionsverdacht reicht als Grund also nicht aus.
Unterdessen stieß Netanjahu auch im demokratischen Westen zunehmend auf Ablehnung, etwa bei US-Präsident Joe Biden. Als er im vorigen Jahr Berlin besuchte, bat neben anderen der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, darum, Israels Demokratie nicht zu schleifen.
Nimbus als Sicherheitsgarant dahin
Die Opposition fordert jetzt eine Notstandsregierung - und dass die rechtsradikalen Minister Bezalel Smotrich (Finanzen) und Itamar Ben-Gvir (Sicherheit) ihr nicht angehören sollten. Die Justizreform dürfte jedenfalls vor dem Aus stehen. Nach dem Ende des Krieges könnte es einmal mehr Neuwahlen geben. Fest steht: Nach dem Terrorangriff der Hamas ist Netanjahus Nimbus als Sicherheitsgarant dahin. Selbst wenn es ihm gelingen sollte, die Organisation im Zuge einer Bodenoffensive im Gaza-Streifen zu entmachten, und Israel eine weitere Eskalation erspart bleibt: Die Toten bleiben tot. Und ob die Geiseln überleben, in welchem Zustand und zu welchem Preis – das weiß keiner.
Egal, wie der Krieg ausgeht: Der Ministerpräsident geht als derjenige in die Geschichte ein, der ihn nicht verhindert und indirekt vielleicht sogar mit verursacht hat. Das werden ihm die Israelis nicht mehr verzeihen. (RND)