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Einen Monat nichts mitbekommen93-Jähriger in Kiew wurde der Krieg verheimlicht

Lesezeit 3 Minuten
ältere Frauen Ukraine

Ältere Frauen im ukrainischen Majaky (Symbolbild) 

Diese Geschichte erinnert ein wenig an den Film „Good Bye, Lenin!“. In der Tragikomödie verheimlicht ein Sohn seiner Mutter, nachdem sie aus dem Koma aufwacht, mit viel Kreativität den Zusammensturz der DDR. Der 93-jährigen Olena Luhowa aus Kiew ist so etwas wirklich passiert. Ihre Schwiegertochter Nadja Loschkina hat ihr über einen Monat verheimlicht, dass sich die Ukraine im Krieg befindet. Der „Spiegel“ berichtet zuerst darüber.

Als am 24. Februar russische Truppen ihren Angriffskrieg in der Ukraine begannen, bekam die alte Frau nichts mit. Luhowa ist schwerhörig und fast blind. Daher schlief sie tief, als die ersten Bomben in Kiew einschlugen. Am nächsten Morgen war die Stadt in Aufruhr. Viele Menschen flohen Richtung Westen. Nadja Loschkina dachte ebenfalls darüber nach, mit ihrer Schwiegermutter zu fliehen. Sie kam aber schnell zu dem Schluss, dass dies mit der gebrechlichen Frau nicht möglich ist. Außerdem bemerkte sie: Die 93-jährige hatte noch gar nicht mitbekommen, was los ist.

„Ihr Zustand war ohnehin nicht gut“

Loschkina beschloss, ihre Schwiegermutter in dem Glauben zu lassen, alles sei wie immer. So lange es ging, wollte sie den Krieg vor ihr geheim halten. „Ihr Zustand war ohnehin nicht gut“, sagt Nadja Loschkina gegenüber dem Spiegel. Sie wollte ihr Herz nicht zusätzlich gefährden. Daher behauptete sie, Radio sowie Fernseher seien kaputt und nahm beides aus ihrem Zimmer. Dem kompletten Umfeld machte sie klar: Man dürfe mit der alten Frau über alles reden - aber auf keinen Fall über den Krieg.

Loschkina selbst berichtete ihrer Schwiegermutter Luhowa zwar von der Nachrichtenlage, ließ aber konsequent den Krieg aus. So erzählte sie, Wolodymyr Selenskyj habe mit seinem Rivalen Petro Poroschenko Frieden geschlossen. Dass der ukrainische Präsident den Disput mit seinem Vorgänger nur beigelegt hatte, weil Russlands Angriff den Fortbestand des ganzen Landes gefährdete, erwähnte Loschkina nicht.

Sie begann auch die Fenster mit Klebeband zu versehen, um das Zimmer der Schwiegermutter bei Explosionen vor Glassplittern zu schützen. „Ich habe ihr gesagt, dass die Fenster alt seien und herausfallen könnten“, so Loschkina.

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Die Taktik geht lange auf. Am 16. März postete Loschkina ein Bild mit ihrer Schwiegermutter auf Facebook. Sie wisse immer noch nichts vom Krieg, doch schaffe sie es, sich davor zu verstecken, schreibt Loschkina. „Ständig eilt sie zum Receiver und Fernsehen. Aber ich sage, dass die Ersatzteile aus dem Ausland lange dauern.“ Sie hoffe, bis zum Sieg durchzuhalten. Die alte Frau solle alles erst im Nachhinein erfahren.

Eine Freundin hat sich verplappert

Doch 13 Tage später war alles aufgeflogen. Am 29. März kam Loschkina ins Zimmer ihrer Schiegermutter und wurde böse angefaucht: „Ich weiß alles.“ Es hatte sich jemand verplappert. Eine Freundin hatte am Telefon doch etwas zum Krieg gesagt.

Luhowa forderte sofort ihr Radio zurück. Seitdem verfolge wieder stundenlang die Nachrichten, heißt es im Bericht des Spiegel. „Es war eine Sünde, mir nichts von diesem Krieg zu erzählen“, meint sie. Seit sie Bescheid wisse, schläft Luhowa nicht mehr gut. Die Schwiegertochter gibt ihr Baldrian.

Die alte Frau, die bereits die grausame Zeit unter Stalin und Hitler erlebt hat, meint: „Wenn Russland gewinnt, dann wird es hier wieder wie im Jahr 1937.“ Damals ließ Josef Stalin Hunderttausende zu Feinden erklären und töten. Unter ihnen war auch Luhowas Vater. (RND/sf)