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Saskia Esken im Interview„Mit seinem frauenverachtenden Verhalten diskreditiert Precht sich selbst“

Lesezeit 10 Minuten
Saskia Esken, SPD-Bundesvorsitzende während einer Pressekonferenz.

Saskia Esken, SPD-Bundesvorsitzende, gibt nach den Gremiensitzungen ihrer Partei eine Pressekonferenz.

Im Interview spricht die SPD-Vorsitzende über eine 4-Tageswoche, Richard David Precht und ihren Twitter-Abgang.

Die SPD-Vorsitzende plädiert für kürzere Arbeitszeiten bei Lohnausgleich. Sie kritisiert Männer wie Richard David Precht für frauenverachtendes Verhalten und beklagt Benachteiligungen von Frauen in allen Branchen. Elon Musk ruiniere Twitter und die Ampel dürfe sich nicht ständig in die Haare kriegen, sagt sie im Interview.

Frau Esken, muss der 1. Mai ein Feiertag bleiben? Historisch geht er auf die Arbeiterbewegung zurück, aber zum gesetzlichen Feiertag haben ihn die Nationalsozialisten gemacht.

Historisch ist der 1. Mai ein Streiktag, ein Kampftag der Arbeiterbewegung für mehr Rechte, höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Im 19. Jahrhundert haben sich Arbeiterinnen und Arbeiter organisiert, um gemeinsam und mit starkem Arm ihre Interessen in der entstehenden Industriegesellschaft vertreten. In dieser Zeit und aus diesem Impuls heraus ist vor 160 Jahren auch die SPD entstanden, als Organisation der Arbeiterbewegung. Die Nazis haben versucht, diesem Tag den Kampfcharakter zu nehmen und nur ihr nationalsozialistisches Abziehbild des Arbeiters zu feiern. Für mich ist der Tag auch heute noch der eine Tag im Jahr, an dem wir mehr als im Alltag daran erinnern, wie wichtig es war und weiterhin ist, für die Rechte der Beschäftigten einzutreten.

Alles zum Thema Elon Musk

Apropos Arbeitszeit: In den 1950er Jahren wurde mit der Kampagne „Samstags gehört Vati mir“ erfolgreich für die Einführung der Fünf-Tage-Woche gekämpft. Ist es jetzt Zeit für eine Vier-Tage-Woche – „Freitags gehören Vati und Mutti mir“?

Ja, gerade Eltern brauchen andere, flexiblere und geringere Arbeitszeiten, um ihre familiären Pflichten und Bedürfnisse besser organisiert zu bekommen. Eine „Arbeit, die zum Leben passt“, wie sie der DGB zu Recht einfordert. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir mit einer Vier-Tage-Woche gute Ergebnisse erzielen. Nicht nur eine bessere Balance von Leben und Arbeit, sondern auch, um die Alterung der Gesellschaft trotz Fachkräftemangels zu bewältigen – auch wenn das zunächst widersprüchlich klingt. Es gibt Studien, wonach Menschen in einer auf vier Arbeitstage reduzierten Woche effektiver arbeiten, weil sie eine höhere Arbeitszufriedenheit haben. Denn sie haben mehr Privatleben.

Weniger Arbeit schafft mehr Zeit

Wäre das eine Arbeitszeitreduzierung bei vollem Lohnausgleich?

Sicher braucht man einen Lohnausgleich. Viele können von ihrem Lohn schon jetzt nicht leben. Andererseits reduzieren sich ja auch Kosten, wenn man einen Tag weniger zur Arbeit kommen muss. Außerdem bleibt dann mehr Zeit, Dinge wieder selbst zu erledigen, für die man im Fünftage-Stress Unterstützung braucht. Partiell haben wir für die Organisation unseres eigenen Lebens doch keine Zeit mehr, weil wir zu viel arbeiten. Meine Generation definiert sich noch sehr stark über die Erwerbsarbeit.

Die jüngeren Generationen weniger.

Das stimmt. Da verändert sich gesellschaftlich etwas. Junge Leute finden es deplatziert, wenn man als erstes nach dem Beruf fragt. Sie machen deutlich, dass sie als Mensch doch viel mehr sind als nur Lehrkraft, Ingenieurin oder Handwerker.

Liegt der ausgeprägte Wunsch nach Work-Life-Balance eher an der Überlastung jungen Menschen oder am Wohlstand in Deutschland?

Das hat mit beidem zu tun. Das Leben und Lernen der Schülerinnen und Schüler ist heute enorm verdichtet. Manche erleiden – man kann es echt nicht anders sagen - im achtjährigen Gymnasium 35 Unterrichtsstunden pro Woche. Da bleibt kaum noch Zeit für Hobbies, Freunde, Langeweile – Dinge, die für die Entwicklung von Gehirn und Persönlichkeit ungemein wichtig sind. Infolgedessen stolpern manche in jungen Jahren ohne Orientierung in die Ausbildung oder Hochschule, die inzwischen auch sehr verschult sind.

Präsenz im Schulunterricht wichtiger als gedacht

Droht Depression bei jungen Menschen, weil es zu viele große Krisen auf der Welt gibt? Klimawandel, Krieg, Pandemie.

Insgesamt sind wir uns noch gar nicht im Klaren darüber, welche Spuren insbesondere die Corona-Pandemie und vor allem die damit verbundenen Beschränkungen bei uns hinterlassen haben. Menschen sind einsam gestorben, weil Angehörige aufgrund der Kontaktbeschränkungen in Kliniken und Pflegeheimen nicht zu ihnen kommen durften. Anderen wurde mehr oder minder verboten, ihren Beruf auszuüben. Für Kinder und Jugendliche wog besonders schwer, dass sie keine Kontakte mit Freunden pflegen konnten. Das stellt in dem Alter eine Entwicklungsbeeinträchtigung dar. Daran muss man denken, wenn es jetzt um die Berufsausbildung geht: Mehr denn je ist sie ein Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung. Da haben Ausbildungsbetriebe Verantwortung.

Kann man Lehren für eine etwaige nächste Pandemie ziehen?

In virologischer Hinsicht kann man nur hoffen, dass wir es bei der nächsten Pandemie mit einem Virus zu tun haben, dessen Charakter wir schon einigermaßen kennen. Wir haben sehr deutlich gesehen, dass wir auf die Präsenz im Schulunterricht nicht vollständig verzichten dürfen. Wir haben gesehen, was die Kurzarbeit auszugleichen vermag und wir kennen auch andere Ausgleichsmaßnahmen. Doch wir haben auch verstanden, welche fatalen Auswirkungen eine einseitige Abhängigkeit von bestimmten Lieferwegen hat. Das müssen wir aufbrechen und uns von der reinen Kostenlogik verabschieden, wonach es immer der billigste Lieferant sein muss. Wir müssen Sicherheit und Resilienz als Faktoren einbeziehen

Esken über Precht

Der Publizist Richard David Precht bekommt gerade viel Aufmerksamkeit dafür, dass er Außenministerin Annalena Baerbock abqualifiziert hat. Sie sei nicht mal gut genug für ein Praktikum im Auswärtigen Amt …

… unfassbar. Dabei ist das ja kein „Ausrutscher“ und passiert nicht zum ersten Mal. Mit seinem herablassenden, frauenverachtenden Verhalten diskreditiert er sich selbst. Mag sein, dass er mit solchen Äußerungen seine Bücher besser verkaufen kann, aber die allgemeine Wertschätzung sinkt doch enorm.

Haben es Frauen in der Politik schwerer als Männer?

Frauen haben es in allen Branchen schwerer, sogar dort, wo es gar keine Männer gibt. Überall und insbesondere wenn es um höhere Positionen geht, müssen Frauen mehr leisten als Männer, um gleichermaßen Anerkennung zu erhalten. Und leider lassen wir Frauen uns viel zu oft darauf ein. Wir sind getrimmt auf Fleißkärtchen. Auch daran gilt es zu arbeiten – dass Frauen mit dem nötigen Selbstbewusstsein auftreten. Denn wir haben allen Grund dazu.

Welche schlechten Erfahrungen mit Männern in der Politik haben Sie gemacht?

In einer Diskussion schon nach drei Worten unterbrochen zu werden. Das ist typisch männliches Kommunikationsverhalten. Oder dass mir mit einer Selbstverständlichkeit die Welt erklärt wird. Da muss man nicht höflich bleiben, man muss sich wehren, sonst schleift es sich ein. Und wenn eine Frau mal wieder über Äußerlichkeiten beurteilt wird anstatt über ihre Leistung, dann kann sie das getrost ignorieren. Es ist nur der Versuch, sie klein zu machen.

Keine Parität in der SPD

Eine Reaktion auf Frauenquoten ist der Spruch von Männern, dass Frauen gerne bei der Müllabfuhr mitarbeiten könnten.

Das ist eine Unverschämtheit. Frauen arbeiten als Reinigungskräfte, als Pflegekräfte, aber auch als Kraftfahrerin, auf dem Bau. Und meistens wuppen sie in der zweiten Schicht noch mal eben den Haushalt und die Familie. Ganz ehrlich: Wir brauchen uns von Männern nicht erklären zu lassen, was harte Arbeit ist.

Bei der SPD-Riege im Kabinett besteht spätestens seit dem Wechsel von Christine Lambrecht auf Boris Pistorius als Verteidigungsminister keine Parität mehr. Welche Konsequenzen hat das?

Die Entscheidung für Pistorius hat sich an der persönlichen Eignung festgemacht. Natürlich bemühen wir uns weiter um Parität, im Kabinett und auch auf allen anderen Ebenen in Fraktion und Partei -dafür haben wir Regeln in unseren Statuten. Um im Bundestag den Frauenanteil zu erhöhen, muss 100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts das Wahlrecht geändert werden. Mindestens für die Aufstellung von Landeslisten muss es Parität geben. Das sollte noch in dieser Wahlperiode ins Gesetz. Frauen stellen über 50 Prozent der Bevölkerung. Wir verlangen daher auch einen entsprechenden Anteil an der Macht.

Sie wollen den Parteien vorschreiben, wen sie aufstellen?

Wir schreiben den Parteien auch vor, dass sie ihre Kandidaten über das ganze Land verteilen, indem sie Landeslisten aufstellen. Und das ist sehr sinnvoll.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser tritt im Herbst als SPD-Spitzenkandidatin in Hessen an. Sollte sie dort Ministerpräsidentin werden, müsste ihr Posten im Bund wegen der Parität mit einer Frau besetzt werden?

Wenn im Kabinett eine Nachbesetzung notwendig wird, werde ich mich auf jeden Fall dafür einsetzen.

Wäre das ein Job für die bisherige Berliner Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey? Oder für Sie?

Das ist eine Frage, die sich heute nicht stellt.

Esken wechselte zu Mastodon

Sie beschäftigen sich viel mit Digitalthemen. Wie bewerten Sie die Entwicklung bei Twitter seit der Übernahme durch Elon Musk, der dem Rechtspopulismus Vorschub leistet?

Bei Twitter muss man aktuell mit anschauen, wie ein Multimilliardär ein erfolgreiches und beliebtes Netzwerk in den Ruin treibt. Die Entwicklung von Twitter ist aber schon länger problematisch. Das Unternehmen geht in keiner Weise gegen Fake-Accounts und maschinell verstärkte Desinformation vor, hält sich auch sonst nicht an Regeln und ignoriert Rechtsprechung, wenn sie den Geschäftsinteressen widersprechen. Außerdem agiert Twitter völlig intransparent und verweigert sich als Ansprechpartner. Es ist für mich inakzeptabel, einem solchen Unternehmen die eigene Reichweite zur Verfügung zu stellen, und dadurch sein Geschäft zu stärken.

Sie haben Twitter verlassen.

Ich bin zum Netzwerk Mastodon gewechselt. Ich wollte damit ein Zeichen setzen und der Alternative eine Chance geben. Aber natürlich ist es damit nicht getan. Wir haben in Europa Regeln für die digitalen Dienste erarbeitet, und die müssen wir auch gegenüber Twitter durchsetzen. Gerade hat die EU-Kommission entschieden, dass Twitter und andere große, global agierende Plattformen wegen ihrer großen Verantwortung unter besondere Aufsicht gestellt werden, damit Desinformation, Hass und Hetze eingedämmt werden und sie sich unseren Anforderungen der Transparenz stellen. Jetzt muss Europa Zähne zeigen und seine Regeln durchsetzen

War es eine gute Idee, dass Verkehrsminister Volker Wissing Elon Musk getroffen hat?

Das muss Herr Wissing selbst entscheiden. So wie Musk derzeit agiert, würde ich keinen Umgang mit ihm pflegen.

KI-Entwicklungen können Gesellschaft weiterbringen

Haben Sie Geld in den virtuellen Grundstückskauf bei Marc Zuckerbergs Metaverse angelegt?

Nein. Ich habe aber auch gehört, Mark Zuckerberg habe diese Idee mittlerweile auch still und heimlich begraben. Ich finde die Künstliche Intelligenz deutlich spannender. KI-Entwicklungen können unsere Gesellschaften weiterbringen. Sie kann die Verwaltung effektiver machen, die Bildung gerechter und Fortschritte in der Medizin bringen. Aber sie kann uns auch in den Ruin treiben, wenn wir nicht die Kontrolle behalten. Geschäftsinteressen dürfen nicht wichtiger sein als die Demokratie.

Wie lässt sich verhindern, dass in großem Stil KI-Fälschungen von Bildern, Videos und Tonspuren verbreitet werden?

Es wird die große Herausforderung sein, Fälschungen von den Originalen zu unterscheiden. Wir sollten es möglich machen, dass man Originale, also echte Zeugnisse menschlicher Kommunikation oder Aktionen, fälschungssicher kennzeichnet.

Schlechte Umfragewerte für die SPD – Warum?

Ihr Hauptgeschäft als Parteivorsitzende ist die SPD. Die steht in Umfragen gerade nicht so gut da. Woran liegt das?

Es gibt fast einen Automatismus, dass die Partei, die den Kanzler stellt, ein Jahr nach der Regierungsübernahme bei den, Umfragewerten nicht an das Wahlergebnis heranreicht. Ich erlebe aber viel Zustimmung in der Bevölkerung für sozialpolitische Entscheidungen wie die Erhöhung des Mindestlohns, die Erhöhung des Kindergeldes und Kinderzuschlags und die Stützung der Energiepreise. Und dasselbe gilt auch für den Umgang mit dem Ukrainekrieg. Ich bekomme das Feedback, dass man froh ist, dass ein Olaf Scholz dieses Land führt.

Wenn alle so zufrieden wären, müssten die Werte doch besser sein. Welchen Effekt haben die ständigen Streitereien in der Koalition?

Es schadet der Regierung und dem Ansehen der Politik, wenn sich Koalitionspartner ständig in die Haare kriegen. Und es ist auch nicht gut, wenn ein Koalitionsausschuss nach 30 Stunden ein Ergebnis präsentiert und schon am nächsten Tag der eine oder die andere erklärt, das reiche noch nicht. Die Aufgaben, die wir zu erledigen haben, sind groß. Und deswegen ist es wichtig, dass wir auch in der Außendarstellung gemeinsam auftreten, dass wir den Menschen Orientierung und Zuversicht bieten.