Für Siegfried Russwurm ist die Sache klar: Die Arbeitgeber allein sollen schon bald wieder entscheiden, wo die Beschäftigten ihrer Tätigkeit nachgehen – ob zu Hause oder im Büro. So sagte es der Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI) am Montag im Deutschlandfunk. Gleichzeitig machte er Arbeitnehmern, die Heimarbeit vorziehen, Hoffnung: Es werde nach dem Abklingen der Pandemie ohnehin nicht mehr so wie früher sein. Denn auch Unternehmen hätten die Vorzüge von Homeoffice und mobiler Arbeit erkannt. Die neuen Formen würden dauerhaft einen höheren Stellenwert einnehmen. Der Spitzenfunktionär macht aber auch darauf aufmerksam, dass es nur individuelle Lösungen geben könne, die sich an den jeweiligen Gegebenheiten in den Unternehmen orientieren.
Derzeit gilt zumindest für Beschäftigte, die normalerweise im Büro sitzen, noch eine Pflicht zum Homeoffice, wo immer es möglich ist. Die Unternehmen müssen die Arbeit von daheim aus ermöglichen. Ausnahmen sind nur gestattet, wenn der Arbeitgeber zwingende Gründe nachweisen kann. Diese Regelung, die die Verbreitung der Covid-Viren eindämmen soll, ist bis zum 30. Juni befristet. Russwurm macht sich dafür stark, dass danach die Verordnung ausläuft und die Bestimmungen ersatzlos gestrichen werden. Ob es so weit kommt, ist offen. Das wird stark von der Entwicklung der Inzidenzen abhängen.
Fürsorgepflicht der Arbeitgeber bleibt bestehen
DGB-Chef Reiner Hoffmann weist darauf hin, dass die Pandemie noch nicht überwunden sei. Solange ein Großteil der Beschäftigten nicht geimpft sei, dürften sich die Arbeitgeber nicht aus der Verantwortung ziehen, sagte Hoffmann dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Die Unternehmen müssten für einen wirksamen Arbeitsschutz sorgen. Darauf insistiert auch der renommierte Arbeitsrechtler Arndt Kempgens. Aus der Fürsorgepflicht der Arbeitgeber ergebe sich die Verpflichtung „zumutbare Schutzmaßnahmen“ zu ergreifen. Dazu könne natürlich auch die Fortführung von Homeofficeangeboten gehören, sagte Kempgens dem RND. Willkürliche Entscheidungen der Arbeitgeber würden gegen die Bestimmungen verstoßen. Zugleich gebe es aber kein Homeofficegesetz, das außerhalb der besonderen Lage durch Corona gelte.
Enorm viele Fragen sind ungeklärt. Zumal niemand weiß, wann die Pandemie für überwunden erklärt wird. Experten gehen davon aus, dass das womöglich erst in ein zwei, drei Jahren der Fall sein kann. Und nach dem 30. Juni? „Denkbar ist eine – vielleicht auch etwas abgespeckte – Anschlussregelung“, so Kempgens, der jede Menge Unsicherheiten für die Zeit vom 1. Juli an erwartet. Arbeitgeber könnten dann darauf angewiesen sein, fürs Homeoffice „nachprüfbare und sachgerechte Kriterien zu entwickeln“ – ähnlich der Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen, die sich an Betriebszugehörigkeit und Lebensalter orientiert. Der Arbeitsrechtler erwartet: Das Thema Büro in der Firma oder Heimatbüro werde „erheblichen arbeitsrechtlichen Klärungsbedarf bis hin zu Klageverfahren verursachen“.
Die Bundesregierung, namentlich Vizekanzler Olaf Scholz (SPD), hat bislang nur eine vorzeitige Aufhebung der Homeofficeregelungen, also noch in diesem Monat, abgelehnt. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hat allmähliche Lockerungen ins Gespräch gebracht – ohne dies zu konkretisieren. Beobachter erwarten, dass vor der Bundestagswahl am 26. September keine gesetzlichen Regelungen mehr beschlossen werden.
Für DGB-Chef Hoffmann haben die vergangenen Monate gezeigt, „dass mobile Arbeit in einem weit größeren Umfang möglich ist, als bisher angenommen“. Aber auch die Schattenseiten der ungeregelten mobilen Arbeit seien offengelegt worden. „Deswegen fordert der DGB einen gesetzlichen Regelungsrahmen für mobiles Arbeiten. Nur so kann ein weitreichender Arbeitsschutz, das Recht auf Nichterreichbarkeit oder eine verlässliche Arbeitszeiterfassung gewährleisten werden. Wir brauchen klare Spielregeln für eine moderne, digitale Arbeitswelt.“ Stärkere Mitbestimmungsrechte spielten hier eine zentrale Rolle: „Überall dort, wo Mitbestimmung und Tarifbindung funktionieren, sind bereits vor der Corona-Krise aber auch in den letzten Monaten viele gute, für das jeweilige Unternehmen oder Branche passgenaue Vereinbarungen zur Regelung mobilen Arbeitens abgeschlossen worden – sowohl in Betriebsvereinbarungen als auch in Tarifverträgen.“
Scholz beharrt auf Homeoffice-Pflicht
Katrin Göring-Göring-Eckart, Chefin der Grünen-Bundestagsfraktion, hat einen Dreipunkteplan zum Thema vorgelegt. Die Kernforderung: „Aus der aktuellen Homeofficepflicht wollen wir ein Recht auf Homeoffice machen.“ Dazu sollen Unternehmen bei weiteren Schritten zur Digitalisierung vom Staat unterstützt werden. Und es sei wichtig, die Telekommunikationsinfrastruktur auszubauen, damit auch mobiles Arbeiten auf dem Land möglich werde. Eine Idee ist dabei die Einrichtung von Gemeinschaftsbüros in Dörfern.
Derweil kursiert in Berlin ein Referentenentwurf des Arbeitsministeriums, der unter anderem vorsieht, dass Arbeitnehmer alle vier Monate einen Antrag auf Arbeiten im Homeoffice stellen können. Gibt es dazu keine Rückmeldung vom Arbeitgeber, sollen sechs Monate Homeoffice als vereinbart gelten. Bei einem ersten Anlauf für ein Homeofficegesetz war Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) am Widerstand der Union gescheitert. Völlig offen ist, wie umfänglich und verbindlich ein mögliches Recht auf moderne Heimarbeit aussehen soll. Wird eine bestimmte Anzahl von Tagen pro Woche festgelegt? Welche Rolle spielen Betriebsräte? Oder: Gelten die Regelungen auch für Kleinbetriebe – dort sind Homeofficeregelungen häufig besonders schwer umzusetzen.
Indes hat eine aktuelle Befragung des Münchner Ifo-Instituts ergeben, dass im Mai 31 Prozent der Beschäftigten zumindest teilweise im Homeoffice arbeiteten. Besonders hoch ist der Anteil mit mehr als 80 Prozent bei IT-Dienstleistern. In der Baubranche sind es noch nicht einmal 10 Prozent. Das Ifo-Institut taxiert das Potenzial für die gesamte Wirtschaft auf 56 Prozent.