- Im Herbst könnte sich in Deutschland eine neue Corona-Variante durchsetzen.
- Der Blick ins Ausland zeigt: Schon jetzt grassieren Virusvarianten, die das Potenzial haben, eine erneute Infektionswelle hervorzurufen.
- Zwei davon sind gerade besonders im Fokus der Fachleute.
Köln – Die Corona-Lage im Herbst wird ungemütlich. Das prognostizieren Expertinnen und Experten schon seit Monaten. Wie ungemütlich es wird, wissen sie jedoch nicht. Denn darüber entscheidet vor allem die Evolution des Coronavirus – und die ist wie immer unberechenbar. Der Erreger selbst gibt den Takt an.
So rechnet etwa der Virologe Christian Drosten mit einer starken Corona-Welle noch vor Dezember. Auch wenn die Verläufe leichter wären, werde dies wahrscheinlich zu erheblichen Arbeitsausfällen führen, sagte der Direktor der Virologie an der Berliner Charité der „Süddeutschen Zeitung“.
Neue Virusvarianten machten wieder stärker krank, sodass viele Menschen ganz unabhängig von Isolationsverordnungen gar nicht zur Arbeit gehen könnten.
Es kann sein, dass Omikron bleibt. Es könnte sich aber auch eine andere Virusvariante mit veränderten Eigenschaften durchsetzen. Die maßgebende Frage wird dann sein: Welche Eigenschaften sind das? Kann die Variante das Immunsystem noch besser überlisten? Sorgt sie dadurch wieder für mehr Ansteckungen, auch bei Geimpften? Werden Infizierte wieder schwerer krank?
Die Antworten auf diese Fragen bestimmen, wie ausgelastet die Krankenhäuser in diesem Herbst sein werden, wie viele Menschen sich isolieren müssen, wie groß die Personalausfälle sein werden.
Erreger verändert sich schnell
„Es gibt im Moment eine große Zahl von Varianten, die das Potential haben eine neue Welle zu verursachen“, sagt Richard Neher. Er forscht am Biozentrum der Universität Basel zur Evolution des Coronavirus und hat das Projekt „Nextstrain“ ins Leben gerufen, mit dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fast in Echtzeit verfolgen können, wie sich der Erreger verändert. Diese potenziellen Wellenverursacher kämen in Europa aber noch selten vor. Es handelt sich dabei vor allem um Nachfahren der Omikron-Varianten BA.2 und BA.5.
Coronavariante „Centaurus“ breitet sich in Indien aus
Eine dieser Omikron-Nachkommen ist die Variante BA.2.75. Sie trägt den inoffiziellen Spitznamen „Centaurus“ (Zentaur). Erstmals nachgewiesen wurde die Virusvariante im Mai in Indien, wo sie inzwischen das Infektionsgeschehen dominiert. Aber auch in anderen Ländern breitet sich der Subtyp immer mehr aus, schreibt das Robert Koch-Institut (RKI) in seinem aktuellen Wochenbericht. In Deutschland ist BA.2.75 bisher kaum verbreitet: Seit Ende Juni wurde die Variante 33-mal in Corona-Proben entdeckt.
Noch ist nicht allzu viel über die Eigenschaften des Omikron-Subtypen bekannt. Die Mutationen würden zumindest auf ausgeprägte Immunfluchteigenschaften hindeuten, urteilt das RKI. Das heißt, BA.2.75 ist in der Lage, die Immunantworten von Geimpften und Genesenen zu umgehen. Reinfektionen und Impfdurchbrüche sind damit wahrscheinlicher.
Studie: Impfstoffe können BA.2.75 neutralisieren
Die Immunflucht der Virusvariante sei jedoch nur minimal verschärft, berichtet Leif Erik Sander vor wenigen Tagen auf Twitter. Der Impfstoffforscher von der Berliner Charité verweist auf eine Studie der Uniklinik Köln, die untersucht hat, wie stark Antikörper BA.2.75 neutralisieren können. Sie ist Anfang September im Fachmagazin „The Lancet“ erschienen. An der Untersuchung teilgenommen hatten 30 Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen und über 70-Jährige, die drei Dosen des Corona-Impfstoffs von Biontech/Pfizer erhalten hatten.
Die Ergebnisse stimmen zuversichtlich: Die Antikörper der Probandinnen und Probanden konnten BA.2.75 zwar schlechter neutralisieren als den Omikron-Subtypen BA.2, aber besser als BA.4/BA.5. Auch die monoklonalen Antikörper Tixagevimab/Cilgavimab, die zur Behandlung von Covid-19-Erkrankten eingesetzt werden, zeigten eine gute Neutralisation.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) spricht von einer wichtigen Studie. „Die gute Nachricht liegt darin, dass mit den neuen angepassten bivalenten BA1 Impfstoffen auch die BA.2.75 Variante gut abgedeckt wäre“, twitterte er vor wenigen Tagen.
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Anlass zur Sorge ist die neu entdeckte Omikron-Variante momentan also nicht. Das RKI teilt zudem mit: Dass sich BA.2.75 gegen die bisher dominierende Omikron-Variante BA.5 durchsetzt, sei „aktuell nicht erkennbar“. „Centaurus“ wurde von der Weltgesundheitsorganisation WHO dennoch als „Variante unter Beobachtung“ eingestuft.
Omikron BJ.1 in Österreich nachgewiesen
Es gibt noch eine weitere Virusvariante, die im Herbst zum Problem werden könnte: BJ.1, ebenfalls ein Abkömmling des Omikron-Subtypen BA.2. Auf Twitter macht Ulrich Elling, Genetiker am Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, auf die Corona-Variante aufmerksam, die Anlass zur Sorge gebe. Nachgewiesen wurde sie bisher unter anderem in Indien, den USA und in Österreich.
„Die Zahlen sind immer noch sehr niedrig“, schreibt Elling, „aber die neu erworbenen Mutationen sind wirklich eine unangenehme Kombination an kritischen Stellen.“ Die Virusvariante besitzt 14 zusätzliche Mutationen, vorwiegend in der Nähe der Rezeptorbindungsdomänen, mit denen sich der Erreger Zutritt zu den menschlichen Zellen verschafft und die Angriffspunkte der Impfstoffe sind.
Bislang nur wenig verbreitete Variante
Genetiker Elling schlussfolgert daraus: „Dieses Paket von Mutationen macht eine weitere signifikante Umgehung des Immunsystems sehr wahrscheinlich. Man kann nur hoffen, dass dies für das Virus mit erheblichen Kosten hinsichtlich der Infektiosität verbunden ist.“ Welche Eigenschaften BJ.1 genau besitzt, ist noch unklar. Denn noch ist die Virusvariante nur wenig verbreitet. Sie müsse jedoch weiter genau beobachtet werden, fordert Elling.
Welche dieser beiden Corona-Varianten am Ende das Rennen machen wird, lässt sich nicht sagen. Nicht ausgeschlossen ist, dass sich weder BA.2.75 noch BJ.1 durchsetzen wird, sondern eine andere Virusvariante.
Komplett neue Variante nicht in Sicht
Auch Rekombinationen sind möglich. Dabei tauschen unterschiedliche Virusvarianten genetisches Material miteinander aus. Das RKI weist in seinem Wochenbericht etwa darauf hin, dass „sporadisch“ Rekombinationen verschiedener Omikron-Varianten aufgetreten seien. Hinweise auf eine veränderte Übertragbarkeit, Krankheitsschwere oder Immunantwort gegenüber den Ausgangsvarianten gebe es bisher allerdings nicht.
Ein Ende der Evolution des Coronavirus ist also nicht abzusehen. Der Erreger mutiert weiter, auch weil es in vielen Ländern ein hohes Infektionsgeschehen und noch Immunitätslücken gibt. Aber: „Eine komplett neue Variante – wie vergangenen Dezember Omikron – ist im Moment nicht in Sicht“, sagt der Schweizer Virusevolutionsexperte Neher.